Carmen in Frankfurt

Jenseits von Wohlfühltheater

Paula Murrihy als Carmen in der Oper Frankfurt
Paula Murrihy als Carmen in der Oper Frankfurt © Oper Frankfurt / Foto: Monika Rittershaus
Von Natascha Pflaumbaum · 05.06.2016
Jubel und Wutschreie nach der Premiere: Barrie Koskys Inszenierung von George Bizets Carmen an der Oper Frankfurt hat das Publikum sichtlich irritiert. Die außergewöhnliche Fassung ist frei von Kitsch und Klischees.
So eine Carmen hat man noch nicht gehört und nicht gesehen: Barrie Kosky hat den Opernhit von George Bizet für die Oper Frankfurt produziert – in einer komplett für Frankfurt neu geschaffenen Fassung, die er mit dem Dirigenten Constantinos Carydis geschrieben hat.
Das Publikum war sichtlich irritiert und drückte seine gespaltene Meinung im Schlussapplaus lauthals jubelnd und wutschreiend zugleich aus. Für einen Opernmacher wie Kosky, der nie auf Wohlfühltheater setzt, gab es keine andere Wahl, Bizets "Carmen" auf diese Art neu zu lesen. Es hat sich gelohnt, denn er kann dem Werk, der Musik und vor allem der Geschichte spannende neue Details abgewinnen.
Diese Carmen ist vom ersten Moment an anders. Das Publikum sitzt und wartet auf den Dirigenten. Doch das Saallicht wird nicht langsam heruntergedimmt, wie üblich, sondern es gibt einen Blackout in Milli-Sekunden, synchron dazu knallt der Eröffnungstusch der Ouvertüre aus dem Orchestergraben, und man zuckt auf seinem Stuhl zusammen: Aufpassen Leute, jetzt müsst Ihr mitdenken. Das ist hier die Botschaft.

Kompilation aus allen 10 Fassungen

Regisseur Barrie Kosky und Dirigent Constantinos Carydis arbeiten für Frankfurt mit einer besonderen Fassung. Bizet hat insgesamt zehn Fassungen der Carmen hinterlassen, Chöre und die Couplets, Arien immer wieder überarbeitet.
Die neue Frankfurter Fassung ist nun eine Art Kompilation aus allen 10 Fassungen. Eine fassungsübergreifende Version, die sich nicht an die Moden und Eingriffe des Theaters zu Zeiten Bizets hält. Das wesentliche Merkmal dieser Fassung liegt in der Hinzufügung narrativer Texte von Meilhac, Halévy und Mérimeé. Die spricht eine Stimme aus dem Off (Claude De Demo): Carmens Stimme, die Erzählerin, Kommentatorin ist.
Diese Stimme spricht einen Prolog, sie verbindet Szenen, wie in einem klassischen Singspiel oder wie in einer Revue. Tanz- und Chorszenen werden auf diese Weise herausgestellt, bekommen große Aufmerksamkeit, so sehr, dass man denkt, es handele sich hier um eine Choroper. Statt der vier Akte der konventionellen Fassung gibt es in der Frankfurter Fassung nur drei, auch das Ende richtet seinen Fokus nicht – wie üblich – auf Don José, sondern auf Carmen.

Kein Carmen-Klischee, kein Kitsch

So weit so gut. Warum das aber alles? Weil Kosky anscheinend keinen Spanienkitsch will. Diese neue Textfassung ermöglicht dem Regisseur tatsächlich eine neue Sicht und einen neuen Umgang mit dem Text: er muss keine lineare Geschichte erzählen. Er muss kein Carmen-Klischee bedienen, er muss keine kitschige Liebesgeschichte erzählen.
Stattdessen setzt er auf Reduktion und Zuspitzung aufs Extreme. Hier und da spielt er zwar über die Kostüme – Torerotracht und Burlesque-Kleider – auf das Original an. Aber eigentlich geht es ihm um etwas Zeitloses: Kosky stellt extreme Menschen aus und ihre Gefühle.
Statt Carmen- und Spanienkolorit lässt er darum die Oper dreieinhalb Stunden auf einer großen, bildfüllenden Treppe spielen (Bühne und Kostüme: Katrin Lea Tag). Wie einfältig, denkt man zu Beginn, aber gerade hier kommt Komplexität ins Spiel. Diese Treppe ist Showtreppe und Arena zugleich. Sie ist Theater, hier geht es auch um ein Spiel im Spiel, wie sich am Ende herausstellt. Sie erinnert an die berühmten Treppen von Montmartre, an die Showtreppe eines französischen Varietés. Sie ist Symbol für das soziale Oben und Unten, aus dem sich die Konflikte dieser Oper speisen.
Kosky ist ein wahrer Meister im abwechslungsreichen Bespielen dieser Riesentreppe. Polternde Auf- und Abgänge, Sitztänze, Breakdance-Einlagen: der Regisseur arrangiert fantastische Bilder, große Tableaus, wie Gemälde von Delacroix. Diese riesige Treppe verstellt absichtlich den Bühnenraum, um Raum für ein Kammerspiel zu schaffen, in dem Kosky den Fokus schärft: für die Figuren, für Carmen.

Eine Frau, die nichts aus der Bahn wirft

Paula Murrihy singt und spielt eine sadistische Carmen. Fantastisch! Diese Carmen ist eine Frau, die tatsächlich nichts aus der Bahn wirft, die wie ein Gorilla Menschen und ihre Gefühle zerreißt. Darum steckt Kosky sie bei ihrem ersten Auftritt auch in ein Gorillakostüm: diese Carmen ist tierisch, triebhaft, brutal, grob. Aber Paula Murrihy gibt ihr eine ausdifferenzierte Stimme, die flexibel ist, mal groß, vor allem weich, kräftig, geschmeidig, eine Stimme, aus der man in jeder Sekunde ein Gefühl ablesen kann.
Murrihy singt diese Carmen-Partie wie ein Lied, in feiner Ausgestaltung, auf einen langen Atem gesetzt, wortfeilend. Und Joseph Calleja, Don José, stimmt in diese feinsinnige Art ein, er gibt den sensiblen Counterpart: sensibel, nie schmetternd, mit klarer Diktion und in fantastischer Disposition. Seine Höhe hat Strahlkraft und Schönheit und vor allem Natürlichkeit.
Alles das wäre aber nichts ohne Constantinos Carydis, den Klangmagier am Pult des Frankfurter Museumsorchesters, der diese Carmen seriös, klar, durchsichtig und mit großem Volumen aufbrausen lässt. Er dirigiert große Lautstärken: nie plump; malt überaschende Farben: ohne Kitsch; setzt auf große dynamische Kontraste und bleibt dabei so analytisch, als dirigiere er einen Kammermusikabend. Es ist, als setze er die Streicher und Bläser seines Orchesters auf verschiedene Ebenen, um so einen skulpturalen, dreidimensionalen Klang zu erzeugen.
Carmen in der Frankfurter Fassung ist eine Entdeckung: inspirierend, unterhaltsam, zu Herzen gehend und mitreißend.