Carlos Gamerros: "Die 92 Büsten der Eva Perón"

Spöttische Annäherung an eine Volkstribunin

Dieses Bild von Eva Perón ("Evita") war 2012 auf der Fassade des Gesundheitsministeriums in Buenos Aires zu sehen.
Dieses Bild von Eva Perón ("Evita") war 2012 auf der Fassade des Gesundheitsministeriums in Buenos Aires zu sehen. © dpa / picture alliance / Enrique Garcia Medina
Von Dirk Fuhrig · 16.04.2018
Evita Perón nimmt als Ikone einen festen Platz im kollektiven Bewusstsein der Argentinier ein. Ihr wird eine Verehrung zuteil, die Carlos Gamerros in "Die 92 Büsten der Eva Perón" als Gesellschaftssatire auf die Spitze treibt.
Ein erfrischender Regentag im heißen Sommer von Buenos Aires. In seiner eleganten Altbau-Etage hat Carlos Gamerro alle Fenster weit geöffnet. Die Abkühlung tut gut.
"Wir sind hier im Stadtteil Recoleta. Ein historisches Viertel, ganz in der Nähe des berühmten Friedhofs Recoleta, auf dem die meisten wichtigen Persönlichkeiten der argentinischen Geschichte beerdigt sind. Eben auch Evita Perón."
Wir stehen auf dem schmalen Balkon des Jugendstil-Hauses und blicken hinunter auf die baumbestandene Straße, auf der die typischen lauten Busse, die einen Großteil des öffentlichen Verkehrs in der argentinischen Hauptstadt bestreiten, im Minutentakt vorbeirauschen. Gamerros Roman spielt nicht nur im Herzen der Metropole, sondern auch im Kern der Geschichte und der politischen Mythen seines Heimatlandes:

"Es ist eine satirische Annäherung an Evita Perón. Darin spiegelt sich meine persönliche Ambivalenz zu ihr. Und auch in Bezug auf unseren anderen Nationalhelden Che Guevara. Welche Rolle hatten diese beiden Figuren in der Geschichte Argentiniens und Lateinamerikas in den 70er-Jahren? Vor allem in der Zeit vor dem Militärputsch in unserem Land, als es diese zwei Gruppen von linken Guerillas gab: die urbanen, peronistischen Montoneros und auf dem Land die ERP, die eine klassisch marxistische Linie vertraten."

Eine Entführung und eine absurde Forderung

"Die 92 Büsten der Evita Perón" ist eine Gesellschaftssatire auf jene Epoche, kurz bevor 1976 die Generäle die Macht am Rio de la Plata übernahmen. Die Entführer eines Wirtschaftsmagnaten erheben eine kuriose Forderung: Die Firma soll in allen Büros ein Standbild der 1952 gestorbenen Ikone Evita aufstellen. Das bringt den eifrigen leitenden Angestellten und Karrieristen Marroné an den Rand der Verzweiflung. Denn es erweist sich als ungeheuer kompliziert, diese Büsten herstellen zu lassen: Versorgungsengpässe bei Gips, Schlendrian in den Verwaltungen, Korruption.
"Dieser Marroné ist auch so etwas wie ein früher Yuppie, der Bücher über Selbstoptimierung und Management liest. Ich habe einen 'Don Quijote für Manager' erfunden, einen Ratgeber, den Marroné begierig liest. Übrigens war Don Quijote auch ein Held für Che Guevara; er hat sich sehr oft auf ihn bezogen – und Guevara hatte ja auch selbst etwas 'Quijoteskes', er war eine Art Kämpfer gegen Windmühlen."

Der Regen hat etwas nachgelassen. Wir setzen uns an den gläsernen Tisch in dem mit Designer-Möbeln geschmackvoll ausgestatteten, weitläufigen Wohnzimmer. Carlos Gamerro ist ein sehr konzentrierter Gesprächspartner. Der 1962 geborene Autor hat ein halbes Dutzend Romane zur Zeitgeschichte und dem Verhältnis der Argentinier zum Patriotismus geschrieben, darunter einen über die Falkland-Inseln. In seinem "Büsten"-Buch steht neben dem Evita-Kult ebenfalls ein Ereignis der argentinischen Geschichte im Mittelpunkt. Gamerro greift eine wahre Begebenheit auf: 1974 hatten Montoneros-Kämpfer die Brüder Juan und Jorge Born entführt, die Chefs des argentinischen Konzerns Bunge & Born.
"Der Sohn des entführten Jorge Born war bei mir in der Schule, er ging in meine Klasse. Und die Straße, in der der Vater entführt wurde, war die, durch die ich jeden Tag mit dem Fahrrad ins Gymnasium fuhr. Das ist also eine Geschichte, die ich selbst erlebt habe."

Ein Land in moralischer Verwirrung

Gamerro zeichnet in seinem Roman das bitterböse Bild eines Landes in moralischer Verwirrung:

"Es hat mich interessiert, wie viele junge Leute, gerade auch aus der Mittelschicht, sich von diesem revolutionären Furor haben erfassen lassen. Die Verbindungen zur Arbeiterbewegung, und wie der Peronismus diese Bewegung idealisiert hat. Und diese seltsame Situation, dass Links-Peronisten gegen Rechts-Peronisten gekämpft haben."
Der Autor führt in eine Epoche der ideologischen Grabenkämpfe zurück, die einem auch in Europa – im Rückblick auf manche Wirrungen in Folge der 68er-Studentenbewegung – durchaus bekannt vorkommt. Der Gegenspieler von Marroné ist ein junger Weltverbesserer:
"In der politischen Literaturkritik jener dogmatischen Zeit der 70er-Jahre wurden die Schriftsteller in revolutionäre Autoren und solche der Bourgeoisie eingeteilt. Ich habe diesen Guerillero erfunden, der die Literatur liebt und deshalb die 'Suche nach der verlorenen Zeit' in einem Umschlag eines Buchs des antikolonialen französischen Denkers Frantz Fanon versteckt, damit seine Vorgesetzten nicht bemerken, dass er Proust liest."
Ein Bürgersohn, der – wie Ernesto "Che" Guevara – zum flammenden Revolutionär wird. Und seine heimliche Liebe zur "bourgeoisen" Lektüre eines Marcel Proust nicht unterdrücken kann.
Bis heute ist die argentinische Gesellschaft stark polarisiert. Nach Jahren des Post-Peronismus unter Nestor und Cristina Kirchner ist seit Ende 2015 der neoliberale Mauricio Macri als Staatspräsident an der Macht, der von vielen Linken als strammer Reaktionär gebrandmarkt wird.
"Als ich das Buch schrieb, konnte ich es nicht wissen. Aber mein Protagonist Marroné ist eine Art Vorwegnahme eines Funktionärs in der jetzigen neoliberalen Regierung von Präsident Macri. Die meisten in seiner Umgebung kommen aus der Welt der Wirtschaft – sie waren CEOs oder Ähnliches – und nicht aus der Politik."

Hochgradig komische Annäherung

Und so ist der Roman nicht nur ein höchst satirischer Rückblick auf Argentiniens Vergangenheit und seine Ikone Evita Perón. Gamerro gelingt es, eine Brücke in die unmittelbare Gegenwart zu schlagen, in der die Ökonomie in vielen Ländern die Politik bestimmt.
Carlos Gamerros Buch ist eine kritische, an vielen Stellen hochgradig komische und spöttische Annäherung die argentinische Form der Heldenverehrung – auch wenn er die emanzipatorische Rolle der Volkstribunin bis heute faszinierend findet:
"Eva Perón ist eine faszinierende Figur. Ganz einzigartig. Als sie mit ihrem Mann an die Macht kam, durften Frauen in Argentinien noch nicht einmal wählen. Das Wahlrecht für Frauen kam erst mit Perón. Sie hat eine charismatische, populistische Bewegung hervorgebracht. Und das praktisch ohne institutionelle Verankerung. Das ist ein einzigartiges Phänomen in Lateinamerika und Argentinien."

Carlos Gamerro: Die 92 Büsten der Eva Perón
Aus dem argentinischen Spanisch von Birgit Weilguny
Septime-Verlag, Wien 2018

Mehr zum Thema