Caritas-Präsident Peter Neher

Vergesst die Ukraine nicht!

Der Präsident des Deutschen Caritasverbands (DCV), Peter Neher spricht am 17.07.2013 in Berlin bei der Jahres-Pressekonferenz zu den Gästen.
Peter Neher, Präsident des Deutschen Caritasverbands © dpa / Rainer Jensen
Peter Neher im Gespräch mit Nana Brink · 02.09.2016
Die Lage in der Ost-Ukraine bleibt kritisch, berichtet Caritas-Präsident Peter Neher. Bei den Menschen mache sich Hoffnungslosigkeit breit. Er appelliert an die Politik, eine europäische Lösung "im Zusammenhang mit Russland" zu suchen.
Die Krise in der Ost-Ukraine wird derzeit international wenig beachtet, aber die Situation ist weiterhin dramatisch.
Bei den Menschen in den betroffenen Gebieten herrsche Hoffnungslosigkeit und Depression, berichtet der Präsident des Deutschen Caritasverbandes, Prälat Peter Neher, der gerade von einer Reise in die Ukraine zurückgekehrt ist.
"Wohnungsmangel ist allgegenwärtig. Ich meine, sie haben 1,7 Millionen Binnenflüchtlinge, die Frage nach der Arbeit, dann fehlen oft die Dokumente, die sie brauchen, um überhaupt irgendwo sich anzumelden. Das ist eine ganz schwierige Gemengelage."

Plädoyer für eine europäische Lösung

Alles, was sich noch irgendwie bewegen könne, verlasse die Gegend. Zurückblieben viele alleinstehende alte Menschen sowie Kinder und Jugendliche. Gerade in der Pufferzone sei das Leben der Menschen unheimlich schwer, so Neher.
"Sie kommen kaum an medizinische Versorgung, sie können ihre Produkte der Landwirtschaft nicht verkaufen, weil sie jenseits der entsprechenden Linie in den Großstädten liegen."
Vor diesem Hintergrund appelliert Neher an die Politik, die Ukraine nicht zu vergessen. Eine Lösung könne nur europäisch und "im Zusammenhang mit Russland" gelingen:
"Und das ist sicher die spannende Geschichte in den nächsten Jahren, wie hier überhaupt wieder Vertrauen wachsen kann nach diesem massiven Bruch von rechtlichen Verträgen, von Unabhängigkeit eines Staates."

Das Interview im Wortlaut:
Nana Brink: Die Außenminister der OSZE, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, zumindest viele von ihnen haben sich ja gestern in Potsdam getroffen und natürlich war die Ukraine ein großes Thema. Man versucht ja, diese Eiszeit zwischen Russland und der Europäischen Union wieder etwas abzuschmelzen, um dort eine Lösung hinzubekommen. Aber alle Zeichen sprechen dafür, dass der Prozess der Annäherung ein langwieriger sein wird. Und währenddessen leiden natürlich die Menschen in der Ukraine, vor allen Dingen im Osten. Prälat Peter Neher ist Präsident des Deutschen Caritasverbandes und ist gestern von einer Reise in die Ukraine zurückgekehrt, er war auch im Osten unterwegs. Einen schönen guten Morgen, Herr Neher!
Peter Neher: Guten Morgen, Frau Brink!

In Kiew merkt man vom Krieg im Osten fast nichts

Brink: Was war Ihr prägendster Eindruck?
Neher: Also, es ist eine eigenartige Stimmung. In Kiew, das ist eine völlig lebendige, quirlige, europäische Großstadt, wo man eigentlich auf den ersten Eindruck vom Krieg überhaupt nichts wahrnimmt. Sobald man aber dann in den Osten reist, vor allem dort mit Flüchtlingen spricht oder auch die zerschossenen Häuser wahrnimmt und über die Checkpoints muss, um überhaupt in die Pufferzone zu kommen, das gibt schon ein depressives Gefühl. Und gerade auch die Menschen sind zunehmend mit dem Gefühl, alleingelassen zu sein, und so allmählich sich abzeichnend die Lage, möglicherweise nicht mehr in die Heimat zurückzukehren. Das ist schon was Menschliches, was einem unheimlich an die Seele und an den Nerv geht.
Präsident Poroschenko besucht im März 2016 Soldaten in der umkämpften Ost-Ukraine.
Präsident Poroschenko besucht Soldaten in der umkämpften Ost-Ukraine.© dpa / picture alliance / Mykola Lazarenko
Brink: Also Hoffnungslosigkeit?
Neher: Also, bei den Menschen, die man trifft, ist es schon eine hohe Frage von Depression auch. Ich meine, es geht ja los mit der Frage der Wohnung, das ist schwierig, Wohnungsmangel ist allgegenwärtig. Ich meine, sie haben 1,7 Millionen Binnenflüchtlinge, die Frage nach der Arbeit, dann fehlen oft die Dokumente, die sie brauchen, um überhaupt irgendwo sich anzumelden. Das ist eine ganz schwierige Gemengelage. Ja, Hoffnungslosigkeit, also mindestens mit vielen depressiven Einsprenklern.
Brink: Sie sind ja vor allen Dingen auch dort, um zu helfen. Was können Sie tun?
Neher: Wir sind seit vielen Jahren mit der Caritas Ukraine in einer engen Partnerschaft. Und jetzt im Moment ist es natürlich ganz stark die humanitäre Hilfe. Wir fördern intensive Projekte der Traumabearbeitung, dass Kinder, Jugendliche familienbezogen mit diesen wirklich traumatischen Erfahrungen zurechtkommen. Wir machen aber auch ganz praktische Fragen, wir unterstützen die Caritas Ukraine beim Wiederherstellen von Schulen, Fensterfinanzierung, ambulante Dienste mit zu finanzieren, den Menschen Existenzsicherung zu ermöglichen, Arbeit zu finden, sich zu qualifizieren.
Also, das ist dieses ganz breite Spektrum neben dem, was wir schon lange machen, die Hauskrankenpflege, Kinder- und Jugendarbeit, um ein Stück, ja, Selbstwert wieder dort den Menschen zu vermitteln und auch ihnen eine Hoffnung zu geben, an ihrem Schicksal auch mindestens an kleinen Punkten selber was ändern zu können.

Wer kann, verlässt die Gegend

Brink: Nun waren Sie ja vor Ort, konnten sich das auch alles irgendwie angucken. Das klingt ja beeindruckend, gibt es nicht Schwierigkeiten auch, denen Sie ausgesetzt sind?
Neher: Also, es war so, dass wir natürlich nur bis in die Pufferzone konnten. Also, in die von der ukrainischen Regierung nicht mehr kontrollierten Gebiete konnten wir nicht einreisen. Und insofern war das schon so, dass wir auch in diesen Gegenden, wo nachts täglich Schusswechsel stattfindet … Nur auch mit entsprechenden Sicherheitswesten und entsprechendem Sicherheitspersonal auch konnten wir in diese Gegenden auch reingehen und ja auch dort die Menschen besuchen. Es sind viele alleinstehende alte Menschen, die zurückbleiben, Kinder und Jugendliche, weil, alles, was irgendwie sich noch bewegen kann, verlässt die Gegend, so gut es geht, weil einfach also gerade in der Pufferzone das Leben der Menschen unheimlich schwer ist, sie kommen kaum an medizinische Versorgung, sie können ihre Produkte der Landwirtschaft nicht verkaufen, weil, die liegen ja jenseits der entsprechenden Linie in den Großstädten. Also, das ist so die gespannte Atmosphäre, in der sich hier auch die Hilfe der Caritas tagtäglich abspielt. Zum Beispiel die Kollegen der Caritas in Dnipro, die kommen alle aus Donezk, weil sie dort vertrieben wurden oder auch selber geflohen sind aus Angst vor den kriegerischen Handlungen.

"Frustration wäre der falsche Ratgeber"

Brink: Sind Sie da nicht frustriert manchmal, wenn Sie die winzigen Schritte – oder wenn es überhaupt Schritte sind – der Politik sehen?
Neher: Ich glaube, Frustration wäre ein falscher Ratgeber. Man kann hier nur Schritt für Schritt gehen und wirklich auch … Das ermutigt dann auch, die kleinen Schritte zu sehen, wo Menschen wieder Hoffnung haben und gleichzeitig an die Politik appellieren, die Ukraine nicht zu vergessen und hier wirklich an Lösungen zu arbeiten, die nur europäisch auch im Zusammenhang mit Russland eigentlich gelingen können. Und das ist sicher die spannende Geschichte in den nächsten Jahren, wie hier überhaupt wieder Vertrauen wachsen kann nach diesem massiven Bruch von rechtlichen Verträgen, von Unabhängigkeit eines Staates. Das sind dramatische Vorgänge, die müssen auf der politischen Ebene behandelt und bearbeitet werden.
Brink: Vielen Dank, Prälat Peter Neher, Präsident des Deutschen Caritasverbandes und gerade zurück von einer Reise aus der Ukraine! Danke für Ihre Schilderungen!
Neher: Ich danke Ihnen auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema