Caritas berät bei Internetsucht

Im Fegefeuer der Rollenspiele

07:26 Minuten
Wandbild von einem Kind mit Smartphone
Spieglein, Spieglein in der Hand: Auf einem Wandgemälde haben Klienten der Beratungsstelle dargestellt, wie tief man im Flimmern des Bildschirms versinken kann. © Elmar Krämer
Von Elmar Krämer · 12.05.2019
Audio herunterladen
Zuviel am Handy? Sind wir ja alle. Aber was ist, wenn jedes Maß verloren geht, wenn der Online-Alltag in Sucht umschlägt? In Berlin hilft die katholische Beratungsstelle „Lost in Space" denjenigen, die nicht zurück ins Diesseits finden.
Berlin, Kreuzberg, Wartenburgstr. 8. Unweit des Parks am Gleisdreieck, der mit seinen großen Wiesen, Skater-Bahnen, Beachvolleyballfeldern und vielem mehr nicht nur zu sportlicher Aktivität unter freiem Himmel einlädt, findet man die Anlaufstelle für all jene, deren Leben sich vor allem im Internet abspielt. "Lost in Space" nennt sich die Beratungsstelle für Computer- und Internetsüchtige der Caritas in Berlin. Vom Senat gefördert soll hier Betroffenen der Weg zurück in die wirkliche Welt gezeigt werden.

Das Smartphone bleibt aus

"Uns liegt daran, dass man sich hier wohlfühlt, denn die Themen sind schwer genug", sagt der Sozialarbeiter Gordon Emons, der Leiter der Einrichtung. "Aber wir haben ein Smartphone-Verbot. Das heißt, dass wir hier das Smartphone ausschalten und das einfach nicht nutzen."
Vor mehr als 30 Jahren wurde das Hilfsangebot unter dem Namen "Café Beispiellos" ins Leben gerufen, damals vorrangig für Glücksspielsüchtige, für die es noch keinen Anlaufpunkt gab. Doch die Zeiten haben sich geändert.
"Anfang der 2000er-Jahre haben auch Computerspieler hier mit dem Hilfeschrei angerufen: Ich habe ein Problem mit dem Spielen!" erinnert sich Emons. "Nicht mehr mit dem Glücksspiel, sondern mit dem Computerspiel. Und so haben wir vom Caritas-Verband dies denn auch aufgegriffen und gesagt, ja, da müssen wir auch was anbieten."

Eine halbe Million Abhängige

Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung spricht von über einer halben Million Menschen, die in Deutschland nicht mehr von Computer und Smartphone loskämen, und nennt neben Social Media-Plattformen Computerspiele als Hauptgrund.
Die Probleme der Klienten sind vielfältig, ebenso wie ihre bevorzugte Beschäftigung im Internet: Rollenspiele, Social Media, Ego-Shooter. Wobei letztere in der öffentlichen Wahrnehmung oft als Hauptproblem angesehen werden, da in ihnen gewaltverherrlichende Aktionen zum Spielerfolg führen, die natürlich auch den christlichen Grundwerten diametral entgegenstehen. Aus der Perspektive der Suchtberatung sind diese Spiele allerdings nicht die problematischsten, sondern nach Einschätzung des Sozialarbeiters eher Onlinerollenspiele.

Moralisch zweifelhafte Spiele sind nicht die gefährlichsten

"Da haben die Ego-Shooter, so wie sie zumindest ursprünglich waren, lange nicht diese Suchtmechanismen im Spiel enthalten, wie beispielsweise ein Spiel, das im Hintergrund weiterläuft", sagt Gordon Emons. "Aus moralischer oder theologischer Sicht, aus der Sicht des Caritasverbandes entspricht es natürlich nicht unserer Wertvorstellung, was hier genutzt wird. Aber uns in der Beratungsstelle geht es darum, die Sucht zu behandeln und nicht Dinge, die die Klienten nutzen, auch moralisch zu bewerten."
Gordon Emons steht vor einer Hauswand an der das Caritasschild hängt.
Was macht meine Armee? Wer gießt meine Blumen? Onlinespiele lassen vielen Menschen keine Ruhe, selbst wenn sie den Bildschirm mal nicht Blick haben, weiß Gordon Emons.© Elmar Krämer
Rund 750 Klienten kamen im vergangenen Jahr in die Beratungsstelle in Berlin – darunter auch Angehörige von Betroffenen. Wie bei anderen Abhängigkeiten auch ist es oft ein schleichender Prozess, der zur Sucht führt. Anfangs sind die Spiele Freizeitaktivitäten. Doch die Welten, die sie bieten, sind so bunt, so abwechslungs- und ereignisreich, dass einigen Menschen das wahre Leben dagegen grau und trist erscheinen mag.

Das Spiel läuft immer weiter

Das größte Suchtpotential sieht Gordon Emons in dem Umstand begründet, dass sich diese Welten ständig weiterentwickeln: "Wenn ich weiß, auch wenn ich jetzt nicht im Spiel bin oder wenn ich eine Pause mache: Das Spiel läuft weiter. Das verleitet mich natürlich zum weiteren Spielen."
"Es gibt Spiele, da kann ich ganz klar eine Pause einsetzen", sagt Emons. "Wenn ich aber weiß, wenn ich eine Pause mache und das Spiel läuft im Hintergrund weiter und ich habe immer im Hintergrund: Was macht meine Armee. Ich muss schauen, ob die über den Berg gekommen sind. Oder bei anderen Spielen, die Frauen eher spielen, muss ich schauen, sind meine Blumen gegossen, meine Tiere gefüttert – und wenn ich das ständig im Kopf habe und dann parallel dazu vielleicht noch über mein Smartphone daran erinnert werde, dass ich meine Blumen gießen muss, dann hat es natürlich ein ganz hohes Suchtpotenzial."

Der Weg zurück ins Leben ist oft schwer

Spieler, die fast durchgängig spielen, die Essen im Internet bestellen, um die fiktive Welt nicht für den Lebensmitteleinkauf in der realen Welt verlassen zu müssen, die ihre Arbeit und ihr soziales Umfeld erst vernachlässigen und dann nicht selten verlieren, das sind die Härtefälle bei "Lost in Space". Der Weg zurück in die wirkliche Welt ist häufig kein leichter.
"Derjenige hat kaum soziale Kontakte", so Emons. "Er sitzt in seiner Wohnung und weiß nicht, was er tun kann, fühlt sich einsam. Und diesen Schritt zu tätigen, das beschreiben auch viele der Betroffenen so, dass sie sagen: Mit dem Spiel aufhören, das kann ich mir eigentlich vorstellen, aber die Kontakte, die ich im Spiel hab, diese aufzugeben, das fällt mir unglaublich schwer. Und dann geht es natürlich parallel mit der Reduzierung auch darum, wieder Kontakte im Real Life aufzubauen."

Spazierengehen oder Eis essen statt zocken

Neben Einzelgesprächen mit den Beratern gibt es bei "Lost in Space" Gruppensitzungen, gemeinsames Kochen und Freizeitaktivitäten, die dazu einladen, den Lebensmittelpunkt aus der digitalen wieder in die wirkliche Welt zu verlegen. Im Sommer lädt auch der nahe gelegene Park am Gleisdreieck zum Sport Treiben, Spazierengehen oder Eis Essen ein. Und immer, wenn die Betroffenen die Beratungsstelle "Lost in Space" verlassen, blicken sie auf ein riesiges Bild, das auf der Brandmauer des gegenüberliegenden Hauses prangt.
Gordon Emons erinnert sich: "Das haben sie ungefähr vor zwei Jahren draufgemalt. Am Anfang haben wir gedacht, ach, da kommt jetzt ein Kind drauf – aber von der Körperhaltung her hat das Kind ein Smartphone in der Hand, oder was soll das sein? Und schlussendlich zeigt das Bild, dass das Kind mit dem Smartphone in der Hand dasteht, auf das Smartphone blickt und gegenüber ein großer Bär steht, und das Kind aber den Bär nicht mehr wahrnimmt und gar nicht mehr sieht, weil es nur auf das Smartphone konzentriert ist."
Mehr zum Thema