Care-Slam in Berlin

Den Pflegenotstand auf die Bühne bringen

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"Zuerst dachte ich, ich bin gar kein Mensch für die Bühne" - die Kölner Krankenpflegerin Beatrix Langenegger ist schon zum zweiten Mal dabei. © Deutschlandradio / Tim Zülch
Von Tim Zülch · 09.07.2018
"Schlucke runter, halte aus, bin stark" - beim Care-Slam berichten Krankenschwestern und Pfleger von ihrer Arbeit. So schaffen sie Aufmerksamkeit für ihre Probleme: Überlastung, Erschöpfung, Verzweiflung.
"Schichtbeginn, Nachtdienst erschöpft, Kollegin krank, kein Ersatz zu finden. Aus fünf Bereichen werden vier. 44 Patienten mit vier examinierten Pflegekräften zu betreuen. Schlucke runter, halte aus, bin stark, bleibe ruhig."
Ein Saal, eine Bühne. Im Zuschauerraum Tische und Stühle. Wir befinden uns in der Alten Feuerwache Berlin-Friedrichshain. Auf der Bühne steht Beatrix Langenegger, 43, aus Köln. Schwarze Locken, Pünktchen-Bluse. Angestrengt schaut sie auf den selbstgeschriebenen Text vor sich. Bei der Aufführung am Abend wird sie von ihrer Arbeit als Krankenpflegerin berichten.

"Leier den Text nicht runter"

"Das Handmikro steht dir besser. Wesentlich besser, da bist du viel mutiger."
Yvonne Falckner sitzt im Jeanskleid an einem der Tische. Vor sich ein Handy mit Stoppuhr. Immer wieder gibt sie Hinweise, ermuntert, erklärt. Mittlerweile zum zehnten Mal organisiert sie die Veranstaltung "CareSlam".
- "Und such manchmal Kontakt. Du kennst doch den Text, leier den Text nicht runter, sondern geh auch in Kontakt. Du kannst doch ganz mutig sagen: Ey, ist doch blöd hier. Ok?"
- "Morgendurchgang. In 30 Minuten kommt schon das Frühstück. Im ersten Zimmer: Patientin liegt gekrümmt vor Schmerzen im Bett. Auf Nachfragen, warum sie sich nicht gemeldet hat, gibt sie an, wir hätten doch immer so viel zu tun und sie wolle uns nicht zusätzlich zu Last fallen. Schlucke runter, halte aus, bin stark, bleibe ruhig."
- "Wie lange war das jetzt von der Zeit her?"
- "Zehn Fünfundvierzig. Sehr gut. Wir kommen alle fast auf zehn Minuten. Das ist sehr gut."

Auch der Vorsitzende des Deutschen Pflegerats macht mit

Vor drei Jahren hat Yvonne Falckner den Care-Slam ins Leben gerufen. Sie ist selbst ausgebildete Krankenschwester und arbeitet für die Beratungsstelle "Pflege in Not" der Diakonie. "CareSlam" organisiert sie als ihr zweites Standbein.
"Als ich in der Bildung gearbeitet habe, habe ich mit Jugendlichen gearbeitet, die sehr schlechte Schulabschlüsse hatten. Und ich habe angefangen, mit denen Theater zu spielen, vom Theater der Unterdrückten. Dass man die Leute, die wenig Stimme haben, ermächtigt, dass sie sich Stimme holen und Raum."
Am Abend werden neben Beatrix Langenegger noch eine Krankenpflegerin, ein Heimbetreiber, der Vorsitzende des Deutschen Pflegerates Franz Wagner und Pflegedirektor Reiner Jakobi auf der Bühne stehen. Yvonne Falckner verbindet die verschiedenen Slams mit einer Rahmenhandlung. Doch wie kommt sie in Kontakt zu Pflegekräften?
"Einige schicken mir ihre Texte. Ganz oft nachts um vier Uhr früh. Das sind die Nachtdienstler. Die kommen dann mit solchen Sätzen: 'Ich habe heute 'ne ganz schreckliche Nacht und ich habe hier einen Text, und den schicke ich Dir jetzt einfach mal.' Dann gehe ich mit ihnen ins Gespräch. Für einige erledigt sich das dann, dann sagen die, das will ich doch lieber nicht. Aber andere, die kommen dann."
Beatrix Langenegger entschied sich für die Bühne. Eine Entscheidung, die ihr allerdings nicht leicht fiel. Heute ist sie schon das zweite Mal beim Care-Slam dabei.
"Da dachte ich zuerst: Nein, das ist gar nichts für mich, ich bin gar kein Mensch für die Bühne."
Doch bald merkte sie: Das Schreiben kann helfen, mit den Belastungen bei der Arbeit klar zu kommen.
"Die darauffolgenden Tage, Wochen ging mir ein Text immer im Kopf rum. Ich musste ihn dann irgendwann aufschreiben, weil ich wusste, ich bekomme keine anderen Gedanken mehr. Und merke halt einfach, dass es mir hilft, damit zurechtzukommen."

Allein mit 62 psychisch Kranken auf der Station

Beatrix Langenegger betreut schwerkranke Krebspatienten. Allein deswegen ist die körperliche und psychische Belastung groß. Hinzu kommt die Belastung durch den allgegenwärtigen Zeitmangel.
"Wir haben viele Sterbende, wir haben viele hochkomplizierte Therapien. Die Überstunden steigen, weil man halt einfach fast grundsätzlich länger bleibt, weil man es nicht in der Arbeit schafft und man einfach die Menge nicht mehr bewältigen kann oder oftmals an die Grenzen kommt."
Einige ihrer Kollegen verzweifelten, andere verließen den Beruf ganz. Langenegger ist sicher: Die Situation hat sich in den letzten Jahren noch verschärft. Auch Astrid Barrera hat Überbelastung auf der Arbeit erlebt. Auch sie ist Krankenschwester, hat bisher bei einer gesundheitlichen Help-Line und in einer psycho-sozialen Pflegeeinrichtung gearbeitet. Sie ist zum ersten Mal beim Care-Slam dabei.
"Ich war alleine in der Nacht für 62 Patienten zuständig. Die waren psychisch krank. Man kommt an Grenzen, wo Patienten auch mal gewalttätig werden, auch gegen einen. Und wenn man, wie ich, eines Abends in die Situation kommt, dass… es dann auch eskaliert ist. Und im Nachhinein wurde mir dann klar, wenn mich der Patient erwischt hätte, so wie er das hätte tun wollen, hätte das eine lebensgefährliche Situation werden können."
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Slammen hilft, mit der Überlastung klarzukommen: die Krankenschwestern Astrid Barrera beim Care-Slam in Berlin-Friedrichshain.© Deutschlandradio / Tim Zülch
Auch für sie war der Zeitmangel bei der Arbeit einer der belastendsten Faktoren. Auch sie hat die Erfahrung gemacht, dass auch ein einfühlsames Gespräch das Leiden von Patienten lindern kann.
"Ich hatte einen Patienten, der ein wahnhaftes Erleben hatte und dachte, sein Körper wird von Außerirdischen besetzt. Man konnte ihm helfen, indem man sich hinsetzt und ihn erzählen lässt. Aber ich kann mich nicht immer hinsetzen."

In die Pflegediskussion ist Bewegung gekommen

Dass solche Erlebnisse keine Einzelfälle sind, weiß Grit Gerster von Verdi. Sie ist dort für den Bereich Gesundheitspolitik zuständig.
"Wichtig, dass solche Situationen nicht entstehen, ist, dass es Personalvorgaben gibt, die verbindlich sind und die von Einrichtungen der Pflege genauso eingehalten werden wie von Krankenhäusern."
Damit meint Genster allerdings nicht die Pflegepersonal-Untergrenzen, die im Moment diskutiert werden: "Die Pflegepersonaluntergrenzen, die gerade verhandelt werden, sollen lediglich helfen, die allerschlimmsten Gefahrensituationen in vielleicht zehn Prozent der Krankenhäuser zu regeln und Pflege sicherer zu machen."
Dass allerdings Bewegung in die Pflegediskussion gekommen ist, merken alle Beteiligten beim Care-Slam. Doch sie sind skeptisch gegenüber der Politik, die die Probleme lange verschlafen hat. Yvonne Falckner:
"Herr Spahn hat gesagt, die Situation ist gefährlich. Das hat noch kein Gesundheitsminister gesagt. Das ist sehr gut. Er hat auch von Vertrauenskrise gesprochen. Jetzt ist die Frage, ob es nur Worte sind oder ob auch Handlungen, Taten folgen. Dann könnte man sagen, vielleicht schaffen wir es, doch das Ruder rumzureißen."
Langsam füllt sich der Raum in der Alten Feuerwache. Knapp 50 Personen sind gekommen – weniger als erwartet. Doch Zeit für Enttäuschung bleibt nicht, denn die Vorstellung beginnt.
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