Cannes und ich

Gedanken eines Filmfestival-Stammgasts

Der Festivalpalast beim 70. Filmfestival in Cannes.
Der Festivalpalast in Cannes - auf unsere Filmkritikerin Anke Leweke übt er nach wie vor großen Reiz aus. © picture alliance / dpa / Ekaterina Chesnokova
Von Anke Leweke · 05.05.2018
Die Filmfestspiele von Cannes: ein zehntägiger Irrsinn, der einfach unvergleichlich ist. Unsere Filmkritikerin Anke Leweke erzählt von ihren schönsten Erlebnissen auf der Croissette.
Natürlich akkreditierte man sich noch per Brief. Ich war stolz wie Oskar, als ich mein sorgfältig ausgefülltes Anmeldeformular abschickte. Und noch stolzer, als die positive Antwort aus Cannes zwei Wochen später in unserem zerbeulten Kreuzberger Briefkasten lag. Es fühlte sich an wie ein Lottogewinn, bei dem die Geldscheine gleich mitgeliefert werden. Endlich aufgenommen im Club der Cinephilen! Cannes, die glamourös glitzernde Verheißung!
Nun ja. Vorfreude ist bekanntlich die schönste Freude. In Cannes angekommen, verstand ich sofort warum der Palais du Festival, dieser unförmige Betonklotz am Ende der Croisette, auch Bunker genannt wird.
Gleich am ersten Tag stand ich am roten Teppich, eingekeilt zwischen Rentnerinnen, die schon Stunden vorher ihre Campingstühlchen an die Absperrungen gekettet hatten; umgeben von Amateurfotografen auf Aluminiumleitern und schreienden Autogrammjägern.
Zum ersten Mal sah ich den Aufmarsch der Pinguine, denn der Smoking-Zwang gilt in Cannes auch für Fotografen und Kameramänner. Und Filmkunst hin oder her. Natürlich warteten wir alle auf diesen Film: Basic Instinkt.
Michael Douglas und Sharon Stone eröffneten 1992 mit ihrem Erotik-Thriller "Basic Instinct" die 45. Filmfestspiele. Merke: Dieses Festival bedient sich gerne an Kommerz und Sex, wenn nur genügend Stars auf den roten Teppich gespült werden.

Eintritt mit mit gelber Ossi-Karte

Für das wichtigste Kinofestival der Welt akkreditiert zu sein, heißt übrigens nicht, dass man auch ins Kino kommt. Mit meiner gelben Presse-Akkreditierung wurde ich von den Einlassern einfach übersehen. Offenbar befand ich mich mit dieser Farbe am untersten Ende der Hackordnung. Zum Glück spielte mein ebenfalls gelb akkreditierter Kollege aus Ost-Berlin die Ossi-Karte aus – und für mich gleich mit. So kurz nach der Wiedervereinigung funktionierte das noch! Mit mitfühlendem Blick überreichte uns die Pressedame die besseren Akkreditierungen – das Festival konnte losgehen.
Bis heute bekomme ich eine Gänsehaut, werde ehrfürchtig, wenn der Vorhang hochgeht, der Festivaltrailer zu Camille Saint-Saens' "Karneval der Tiere" läuft.
Die wahre Faszination der Filmfestspiele liegt im merkwürdigen Nebeneinander von greller Mondänität und einem fast theologisch aufgeladenen Kinoverständnis. 1955 beschrieb der französische Filmtheoretiker André Bazin Cannes als einen religiösen Orden, in dem der Kinobetrachter sein alltägliches, weltliches Leben aufgebe, um in den Festivalpalast, "jenes moderne Kloster des Cinematographen", zu pilgern, den Gralsort der Cinephilie.

Wo Fassbinder einst bis in die Nacht Cuba Libre trank

An diesem Gralsort erlebte ich in meinem ersten Jahr David Lynch, der seinen Film zur Serie "Twin Peaks" vorstellte, ließ mich berühren von der zarten Liebesgeschichte zwischen Emma Thompson und Anthony Hopkins in James Ivorys "Wiedersehen in Howard’s End". Und ich erlebte das Comeback von Robert Altman mit seiner Hollywoodsatire "The Player", in der Tim Robbins als Drehbuchautor über Leichen geht.
Egal wie gut oder schlecht ein Cannes-Jahrgang ist - eine Handvoll Meisterwerke sieht man immer. Und jenseits des Kinos? Sind es die kleinen Rituale, die bis zum nächsten Film Halt geben, den Trubel überstehen helfen. In meinen Anfängen - noch ohne Handys - traf man sich mit den Kollegen nach dem letzten Film, um ins deutsche Eck, ins Petit Majestic zu ziehen: jenes Bistro, in dem Rainer Werner Fassbinder einst bis in die Nacht Cuba Libre beim Flippern trank.
Und plötzlich saß da an einem Abend auch Robert Altman im Freien, diskutierte mit jungen Filmstudenten. Heute undenkbar! Im Laufe der Jahre konnte ich dabei zu sehen, wie das Business die Filmkunst immer mehr in den Würgegriff nahm. Heute werden Interviews im 10- oder 5-Minuten Takt absolviert, dehnt sich der Filmmarkt tentakelhaft über die ganze Stadt aus. Längst hat er mit seinen so genannten Länderpavillons den Blick aufs Meer versperrt, verdecken gigantische Werbeplakate die schönen Belle-Epoque-Fassaden der Luxushotels.
Wenn die Journalisten am Morgen beeindruckt, ergriffen oder verärgert den Frühfilm verlassen, hat man in den Eingeweiden des Festivalbunkers längst die Verleihrechte in Überbietungssprialen verzockt.

Schnell noch einen Espresso an der Theke

Cannes hat seine unerbittlichen Seiten. Etwa das lange Warten beim Einlass. Dieses höfisch wirkende Demütigungsritual, geregelt nach einem streng hierarchisierten Prinzip, bereitet mir immer noch Alpträume. Wirkliche Alpträume. Zum Beispiel den: Alle tragen eine normale Akkreditierung um den Hals, nur ich stehe mit einem Nummernschild in der Schlange. Oder: alle tragen große Akkreditierungen, nur ich habe eine briefmarkenkleine.

Zur Arroganz von Cannes gehört auch die Tatsache, dass der normale Kinobesucher außen vor bleibt. Er ist Zaungast, Claqueur, Statist der großen Show. Im Kino bleibt das Fachpublikum unter sich.
Und doch kann ich es immer wieder kaum erwarten, diese Musik zu hören. Auf Pilgerfahrt in Sachen Filmkunst zu gehen. Morgens das WG-Zimmerchen zu verlassen, durch die Altstadt von Cannes zu laufen, vorbei an den provençalischen Delikatessen des Marché Forville. Schnell noch einen Espresso an der Theke. Weder das strahlende Sonnenlicht, noch das glitzernde Meer können mich abhalten vor dem dunklen Kinosaal. Vor Cannes, diesem zehntägigen Irrsinn. Der einfach unvergleichlich ist.
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