Candice Edmunds mit "Carmen" an der Wuppertaler Oper

Diese Inszenierung ist ein großer Wurf

Ieva Prudnikovaite als Carmen in Candice Edmunds‘ Inszenierung an der Wuppertaler Oper
Ieva Prudnikovaite in der Titelrolle © Jens Großmann / Wuppertaler Bühnen
Von Ulrike Gondorf · 30.06.2018
In ihrem Operndebüt präsentiert die schottische Theatermacherin Candice Edmunds den Klassiker "Carmen" in ungewohnter, begeisternder Klarheit – und beschert den Wuppertaler Bühnen damit einen glänzenden Spielzeit-Abschluss.
Was man doch alles nicht braucht, um eine packende und plausible "Carmen" zu inszenieren: keine vier tonnenschweren Bühnenbilder samt spannungskillenden Umbaupausen, keine kilometerlangen Kleiderstangen mit Flamencoröcken, Uniformen und Torerokostümen mit den dazugehörigen hektischen Umzügen, keine Armee von Statisten. Und die Vamps und Lolitas, die sich in letzter Zeit als Carmen-Wiedergängerinnen verdingt haben, können auch zu Hause bleiben.
Bryony Dwyer als Micaela in Candice Edmunds‘ Inszenierung von Carmen an der Wuppertaler Oper
Bryony Dwyer als Micaela© Jens Großmann / Wuppertaler Bühnen
"Keep it simple", mag sich die schottische Theatermacherin Candice Edmunds gesagt haben. Als Mitbegründerin und Ko-Chefin der Gruppe "Vox motus", die inzwischen internationale Beachtung findet, hat sie in ihrer ersten Operninszenierung - für die die Wuppertaler Bühnen sie jetzt gewonnen haben – den frischen und erfrischenden Blick der Opern-Außenseiterin auf den Blockbuster "Carmen" geworfen. Und die Klischees mit so unangestrengter Selbstverständlichkeit abgeräumt, dass man denken möchte, sie habe sie vielleicht gar nicht gekannt.

Flirrende Uneindeutigkeit

Das Ergebnis ist ein richtiger Wurf. Candice Edmunds zeigt die starke Geschichte (nach der Novelle von Prosper Merimée) von der unentrinnbar fatalen Liebe, die Georges Bizet erzählt hat. Sie macht eigentlich gar nichts "anders". Die Soldaten sind die Soldaten und die Zigarettenarbeiterinnen sind die Zigarettenarbeiterinnen. Sie macht nur alles klar. Sie entdeckt, was unter der Oberfläche liegt, und das ist von flirrender Uneindeutigkeit. Nicht zuletzt darin liegt Carmens Faszination. Sie ist spontan und berechnend, schroff und zärtlich, provozierend, aber auch mädchenhaft verliebt.
Dmitry Lavrov als Escamillo in Candice Edmunds‘ Inszenierung von Carmen an der Wuppertaler Oper
Dmitry Lavrov als Escamillo© Jens Großmann / Wuppertaler Bühnen
Die Litauerin Ieca ist vom Typ her weit weg von der "Zigeunerin". Sehr schlank, sehr groß, eine amazonenhafte Erscheinung, ohne die üblichen Carmen-Etiketten. Ganz selbstverständlich trägt sie ihr eigenes dunkelblondes Haar und ein simples geblümtes Sommerkleid. Diese Carmen ist einfach sinnlich, wirkungsbewusst, sehr autonom, entschlossen, nach ihrem Kopf und zu ihrem Vergnügen zu leben. Eine "Femme Fatale" wird sie nur dadurch, dass dieser Anspruch auf eine Gesellschaft und in der Person ihres Geliebten Don José auf einen Mann trifft, die ihre Freiheit nicht akzeptieren können. So konsequent erzählt und stark gespielt wird die Geschichte spannend und aktuell ohne vordergründige Aktualisierungen.

Die Bühne weckt Assoziationen zur Stierkampf-Arena

Candice Edmunds und ihr Bühnenbildner halten das Drama permanent im Fluss durch einen Einheitsraum, der sich auf offener Szene wandelt. Er ist beinah abstrakt, besteht aus Paneelen, die aus dem Schnürboden herabgelassen und zu unterschiedlichen Formationen gruppiert werden. Sie sehen aus wie aus rohen Holzbrettern zusammengezimmert und sind blutrot gestrichen. Die Assoziation zur Stierkampf-Arena schwingt mit. Die Kostüme könnte man in die Zeit des Spanischen Bürgerkriegs einordnen – damit grundiert ein Klima von Gewalt und Verrohung die ganze Geschichte. Candice Edmunds gelingt es, nicht nur die Solisten, sondern auch Chor und Statisterie zu konzentriertem, körperlich ausdrucksstarkem Spiel anzuleiten - und zur Vermeidung aller operntypischen Gesten und Haltungen. Die großen Massenszenen gewinnen dramatische Energie aus einer klaren Choreographie.
Simon Stricker als Morales und Sebastian Campione als Zuniga in Candice Edmunds‘ Inszenierung von Carmen an der Wuppertaler Oper
Simon Stricker als Morales und Sebastian Campione als Zuniga© Jens Großmann / Wuppertaler Bühnen
Ieva und Joachim führen ein Ensemble an, das beeindruckenden stimmlichen und musikalischen Glanz mit starker darstellerischer Präsenz verbinden kann. Chor, Extra- und Kinderchor der Wuppertaler Bühnen begeistern das Publikum ebenso. Sie alle führen mit dem Sinfonieorchester Wuppertal ein hochdifferenziertes und anspruchsvolles Konzept der neuen Generalmusikdirektorin Julia Jones zum Erfolg. Die Dirigentin setzt auf ein Maximum an Transparenz, dynamischer Flexibilität, rhythmisch geschärfter Artikulation und klanglicher Feinheiten. Es ist ein Fest der "kleinen Noten" und der unendlichen Linien, die bruchlos aus dem Dialog über das Melodram in die großen Arien und Ensembles führen. Ausgefeilt präzise, federleicht, farbig und vital klingt diese Interpretation, dabei immer in perfekter Balance von Bühne und Orchestergraben.

Glänzender Spielzeit-Abschluss

Mit dieser "Carmen" setzen Julia Jones und Candice Edmunds und ihr Ensemble einen glänzenden Schlusspunkt unter eine erfolgreiche Wuppertaler Spielzeit. Das Opernhaus, das nach kulturpolitischen Fehlentscheidungen vor zwei Jahren quasi am Nullpunkt beginnen musste, hat sich mit dem Intendanten Berthold Schneider und seinem Team in Rekordzeit einen Spitzenplatz in Nordrhein-Westfalen erobert: durch innovative Spielplanideen, Mut zu Entdeckungen und Projekten und einem Gespür für interessante Künstler.
Mit Candice Edmunds haben sie eine viel versprechende neue Opernregisseurin vorgestellt.

"Carmen", an der Oper Wuppertal
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