Camus' "Pest" als Theaterfilm

Anstand in Zeiten der Seuche

05:59 Minuten
Die Negativ-Silhouette einer Frau.
Geisterhaft wirken die meisten Figuren, weil sie erkennbar in die Spielorte hineinkopiert wurden. © Bert Zander
Von Stefan Keim · 02.05.2020
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Das Theater Oberhausen zeigt Albert Camus' "Die Pest" als fünfteiligen Theaterfilm. Die Schauspieler haben sich zu Hause selbst aufgenommen und Regisseur Bert Zander hat die Szenen montiert. Mehr als nur ein Durchhalteprojekt in Zeiten des Shutdowns.
"Wissen Sie, ich hab' mich mit meinem Sohn gerade über die Ratten unterhalten. Was sagen Sie eigentlich dazu? – Ach, da wissen wir noch nicht so viel. Die haben sicher nichts zu bedeuten. Da brauchst du dir keine Sorgen zu machen. – Soso."*
Tote Ratten liegen überall in der Stadt. Eigentlich gelten die Tiere als Überlebenskünstler, aber irgendetwas rafft sie dahin. Der Roman spielt in der nordalgerischen Hafenstadt Oran, doch der Ort ist eigentlich nebensächlich. Autor Albert Camus ging es um grundlegende Dinge. "Die Schnittmengen mit unseren Erlebnissen und den Erlebnissen der Figuren in Camus' Roman, die sind natürlich prägnant", erklärt Regisseur Bert Zander: "Aber es gibt eine ganz andere Komponente. Der Roman macht ja noch was ganz anderes. Der erzählt ja auch über die Absurdität der Existenz im Allgemeinen – in der Besatzungszeit der Deutschen geschrieben."

Gleichnis für die Nazis

Camus sah die Pest als Gleichnis für die Nazis. Schleichend ergreift die Seuche Besitz – nicht nur von den Körpern, auch von den Gemütern der Menschen.
"Die Menschen in unserer Stadt begannen ungefähr zu dieser Zeit, unruhig zu werden. Die Abendzeitungen fragten, ob die Behörden Sofortmaßnahmen ins Auge gefasst hätten, um die Bevölkerung zu schützen. Die Stadtbehörde hatte gar nichts überlegt und nichts ins Auge gefasst, berief jedoch eine Ratsversammlung ein."

Das Theater Oberhausen zeigt die "Pest" nun als Film in fünf Episoden. Zu Beginn zeigt die Kamera das leere Theater, die erste Szene spielt auf der Bühne. Dann geht es hinaus in die Stadt, vor Häuserfassaden, auf die Straße, in Parks.
Ein leerer Kinosaal. Auf die Leinwand wird der Kopf einer Frau projiziert.
Die erste Szene spielt auf der Bühne. © Deborah Kötting und Eva Lochner
Doch die Schauspielerinnen und Schauspieler haben nicht an den Orten gedreht, vor denen sie zu sehen sind. Sie haben sich in ihren Privatwohnungen selbst gefilmt mit dem Handy. Bert Zander hat per Videokonferenz aus Berlin inszeniert: "Alle Figuren, die eine direkte Rede haben, die nehmen wir immer in einem schwarzen Studio auf, damit wir den Hintergrund unsichtbar haben", erklärt er. "Wir haben kein Bluescreen- oder Greenscreen-Studio, sondern wir machen das sehr simpel, damit wir diese – nennen wir sie Geister, nennen wir sie Hologramme – in die Stadt mitnehmen können."

Figuren ohne Bodenhaftung

Geisterhaft wirken die meisten Figuren, weil sie erkennbar in die Spielorte hineinkopiert wurden. Die Körper scheinen keine Bodenhaftung zu haben und durch Wände schweben zu können.
Dabei spielt das Oberhausener Ensemble direkt und glaubwürdig. In der Hauptrolle: Clemens Dönicke als Arzt Dr. Rieux. Über weite Strecken des Films ist er ausschließlich als Stimme präsent. Nur seine Gesprächspartner sind im Bild, zum Beispiel der Journalist Rambert:
"Dürfen Sie denn die Wahrheit schreiben? – Natürlich, die Wahrheit. – Ich meine, dürfen Sie vernichtend urteilen? – Ich nehme an, ein solches Urteil wäre unbegründet. – Für mich gibt es nur bedingungslose Stellungnahmen. Ich kann Ihnen also da keine Auskunft geben."

Moral versus Gebote der Quarantäne

Dr. Rieux übernimmt Verantwortung und hält sich an seine moralischen Maßstäbe, auch wenn ihn das in schwierige Situationen bringt. In der zweiten Episode, die nächste Woche online geht, fleht der Journalist Rambert ihn an, ihm eine Bescheinigung zu geben, damit er die Stadt verlassen kann. Er will zu seiner Frau fahren.
Dr. Rieux verweigert das, obwohl er in einer ähnlichen Situation ist und großes Mitleid empfindet. Aber er muss sich an die Gebote der Quarantäne halten, während die Situation immer bedrohlicher wird:
"Das Wort Pest war eben zum ersten Mal ausgesprochen worden. Es hat auf der Erde ebenso viele Seuchen gegeben wie Kriege, und doch finden Seuchen und Kriege die Menschen immer gleich wehrlos vor."

Brücke zur Situation heute

Neben den Profis sind ungefähr 60 Bürgerinnen und Bürger aus der Stadt im Film zu sehen. "Oberhausenerinnen und Oberhausener dürfen mitmachen und kriegen die Erzählertexte, die immer so ein bisschen die Perspektive einnehmen des Gesamtgeschehens dieser Stadtbevölkerung in den verschiedenen Entwicklungsstufen", erläutert Dramaturgin Karoline Behrens. "Da sieht man schon extreme Parallelen zu dem, was wir in den letzten Wochen hatten, vor allem in der Anfangszeit, wo noch nicht so ganz klar war, womit wir es zu tun haben. Das machen wir auf eine Art ästhetisch wie dokufiktional."
Eine Frau wird auf eine Häuserwand projiziert.
Die Körper scheinen keine Bodenhaftung zu haben und durch Wände schweben zu können.© Deborah Kötting und Eva Lochner
"Die Verkäufer der Abendzeitungen schrien aus, die Ratteninvasion sei gestoppt. Aber als Rieux zur Concierge kam, lehnte sich diese gerade aus dem Bett, eine Hand auf den Leib gepresst, die andere am Hals und erbrach unter Krämpfen helle rötliche Galle in einen Abfalleimer."
Die erste Episode dauert eine knappe halbe Stunde und stellt alle wichtigen Personen vor. Die meisten dramatischen Ereignisse kommen erst noch. Dennoch wirkt schon der erste Teil des Oberhausener "Pest"-Projekts inhaltlich wie stilistisch überzeugend. Dass die Figuren wie Gespenster wirken, verstärkt das Gleichnishafte der Geschichte. Dieser Theaterfilm scheint deutlich mehr zu werden als ein Durchhalteprojekt in Zeiten des Shutdowns.
* Die Filmszenen sind kursiv gedruckt.

Ab 2. Mai wird jede Woche samstags um 19.30 Uhr eine neue Folge ausgestrahlt. Online zu finden auf den Webseiten von ZDF Kultur und 3Sat sowie auf die-pest.de.

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