Calumet in den USA

Alte Minenstadt auf Revitalisierungskurs

27:39 Minuten
Ein historisches Gebäude, Baujahr 1894, in Calumet in Michigan bekommt einen neuen Anstrich.
Glanz alter Tage: Ein historisches Gebäude, Baujahr 1894, in Calumet in Michigan bekommt einen neuen Anstrich. © imago images/nameinfame
Von Arndt Peltner · 19.07.2021
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Die Kleinstadt Calumet im Norden des US-Bundesstaates Michigan war vor 100 Jahren eine Boomtown. Der Kupferbergbau sorgte für Aufschwung. Bis in den 1990ern die letzte Mine schloss. Aber die in Vergessenheit geratene Region ist dabei sich neu zu erfinden.
"Take a trip with me in 1913,
To Calumet, Michigan, in the copper country.
I will take you to a place called Italian Hall,
Where the miners are having their big Christmas ball."
Im Sommer 1913 streikten die Minenarbeiter im Copper Country, der Kupferbergbaugegend in der Keweenaw. Hier am Rande des riesigen Sees Lake Superior hatte man bereits im 19. Jahrhundert damit begonnen das weltweit reinste Kupfer abzubauen. Die Region war zum führenden Kupferproduzenten der USA aufgestiegen. Nun war es an der Zeit um höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen im Bergbau zu kämpfen. Ein Streik der von beiden Seiten brutal geführt wurde und mehr als neun Monate dauerte. Er brachte die Gewerkschaft "Western Federation of Miners", WFM, an ihre finanziellen Grenzen. Die Nationalgarde wurde gerufen, um Ordnung zu schaffen. Und dann kam der Heiligabend 1913, den Woody Guthrie in seinem Lied "1913 Massacre" besingt.
Dave Geisler lebt in Calumet, nur zwei Straßenblocks von dem Ort entfernt, an dem die "Italian Hall" einst stand.
"Der Frauenhilfsverein der Bergarbeiter Gewerkschaft organisierte eine Weihnachtsfeier im ersten Stock des Gebäudes, das genau hier an diesem Ort stand. 434 Menschen waren anwesend, als irgendjemand laut 'Feuer' schrie, eine Panik brach aus und alle drängten zur langen, schmalen Treppe nach unten. 73 Menschen starben in der Panik, davon 58 Kinder und 15 Erwachsene."
Die "Italian Hall" steht nicht mehr, der Platz ist leer, nur der Eingangsbogen, ein schwarzer Gedenkstein mit den 73 Namen und eine Gedenktafel des National Park Service erinnern an das Unglück, das nie richtig aufgeklärt wurde, doch das bis heute in Calumet nachwirkt,

Der Glanz der alten Tage

Dave Geisler führt mich durch die 750-Seelen-Gemeinde, einige alte Prachtgebäude aus dickem Sandstein erinnern noch an die alten Zeiten der "Boomtown" Calumet, damals lebten fast 10.000 Menschen hier. In den Hochzeiten des Kupferbergbaus vor 100 Jahren war Calumet mehrmals täglich per Eisenbahn mit den Metropolen Milwaukee und Chicago verbunden, eine Straßenbahn fuhr die "Sixth Street" hinauf und schloss auch die umliegenden Gemeinden an ein öffentliches Verkehrsnetz an.
Arbeiter in Kupfermine in Calumet in Michigan um 1900
Minenarbeiter aufgenommen um 1900: Zu Zeiten des Kupferabbaus war Calumet eine belebte Stadt.© picture alliance / Glasshouse Images
Geisler verbrachte die Ferien seiner Kindheit in Calumet bei Verwandten. Als er vor zehn Jahren in Rente ging zog er ganz von Chicago hierher. Das machen viele Rentner: Zumindest für die warmen Sommermonate kehren sie zurück in die "alte Heimat". Geisler engagiert sich in verschiedenen Organisationen, war auch schon der Ratsvorsitzende der Gemeinde.
Ein alter Prachtbau nur einen Steinwurf von der "Italian Hall" entfernt. Im Jahr 1900 wurde das aus Sandstein errichtete Theater eröffnet, in dem weltbekannte Stars Gastauftritte hatten. Heut wirkt das Gebäude an der "Sixth Street" etwas fehl am Platz, ein Zeugnis längst vergangener, stolzer Tage.
"Hier oben war also eine beliebte Adresse für reisende Theatergruppen. John Philip Sousa trat hier dreimal auf, die polnische Schauspielerin Helena Modjeska Polish kam mehrmals und auch Sarah Bernhardt war hier."

Ein Park für die Würdigung der Vergangenheit

Renoviert ist auch das Besucherzentrum des "National Park Services" auf der "Fifth Street’. Die Keweenaw wurde 1992 zu einem Nationalpark erklärt, um die bedeutende Geschichte dieser Region zu bewahren, erklärt Wyndeth Davis, die Leiterin des "Keweenaw National Historical Park".
"Die Bedeutung dieser Geschichte, für all jene, die nicht von hier sind, ist, wie ein Ort wie dieser so eine große Bedeutung für den Rest des Landes haben konnte. Das Kupfer aus dieser Region wurde für die Telekommunikation im ganzen Land genutzt, brachte überallhin elektrisches Licht, wo man zuvor nur Kerzen und Öllampen hatte. Das Kupfer brachte uns durch den Bürgerkrieg und durch den Ersten Weltkrieg. Es hatte einen riesigen Einfluss auf das Land."
Jo Holt ist die Historikerin des Nationalparks. Sie sitzt vor dem Besucherzentrum auf einer Parkbank. Seit 20 Jahren lebt sie hier, ihr Mann kommt von der Keweenaw. Diesen Nationalpark, so sagt sie, sollte man sich nicht wie den Yellowstone, Yosemite oder den Grand Canyon vorstellen, nicht die Natur steht hier im Vordergrund, sondern die Bewahrung der kultur-historischen Bedeutung für die USA, vergleichbar mit den Nationalparks Alcatraz, der Freiheitsstatue oder auch Boston. Auch die Verantwortungsstruktur des Parks ist eine besondere.
"Wir wurden als ein Partnerschaftspark gegründet, denn die Leute wollten nicht, dass die Regierung kommt und hier alles aufkauft und dann Eintrittsgelder verlangt. Wir sind als Partner der Community hier, haben nur wenig eigenen Grund und Boden, helfen aber dabei die Geschichte hier zu bewahren."
Calumet und die gesamte Keweenaw Region ist abgelegen, weit weg von Washington. Das prägt, meint Holt. Ein älterer Mann erzählte ihr einmal, als die Minen noch in Betrieb waren, habe es diese "Wir"-Community in Calumet gegeben. Offen und willkommen für Immigranten. Mit starken Gewerkschaften und unterstützenden Organisationen. Mit der Schließung der letzten Mine in der Region Anfang der 90er-Jahre sei all das verloren gegangen. Eine "Ich"-Kultur machte sich breit.

Aus alt mach neu

Nur einen Steinwurf vom "Visitor Center" entfernt findet man die Kunstgalerie von Babette Jokela. Mehr als 75 Künstlerinnen und Künstler aus der Region werden hier präsentiert: Malerei, Holz- und Metallkunst, Schmuck und Keramik. Jokela lebt seit 50 Jahren in Calumet.
"Als ich 1971 mit meinen Eltern aus einem viel kleineren Ort hier her kam, fuhren wir an einem Freitagabend die Hauptstraße hinab. Die Läden waren geöffnet und belebt. Leute kamen von der Arbeit und gingen einkaufen. Meine Eltern und wir drei Kinder dachten: 'Was für eine Großstadt!'. Damals schien es riesig und lebendig zu sein. Da waren auch noch Kupferminen offen, so bis Ende der 1970er-Jahre. In den 1980er-Jahren wurde diese Region hart vom industriellen Wandel und der Arbeitslosigkeit getroffen. Es war sehr bedrückend. Wir machten damals Witze und sagten, es gäbe hier in jedem Laden nur Angebote an Sperrholzplatten. Die meisten Gebäude waren 1992 verrammelt."
Mit der Gründung des Keweenaw Nationalparks 1992 änderte sich langsam das Bild. Man erkannte die Bedeutung der Geschichte, und das Potenzial der nordskandinavisch anmutenden Natur für den Tourismus. Die isolierte und verarmte Gegend mit einem durchschnittlichen Jahreseinkommen von etwa 20.000 Dollar pro Haushalt, präsentiert sich heute als eine Region für Outdoor Sport.
Neben dem Tourismus sind auch die beiden Universitäten "Finlandia" und "Michigan Tech" in den benachbarten Hancock und Houghton Wirtschaftsmotoren in der Region. Auch Babette Jokela sieht seit etwa 20 Jahren Veränderungen. Mehr Künstler und junge Leute kommen, finden hier neue Möglichkeiten. Valerie Baciak und ihr Mann zogen 2012 aus Chicago nach Calumet. Sie sind die Besitzer von "Keweenaw Coffee Works", zwei Eingänge weiter von Jokelas Galerie.
Baciak und ihr Mann betreiben ein Cafe mit eigener Kaffeerösterei. Auch sie versuchen die lange Bergbaugeschichte der Region aufzugreifen. Ihr Logo zeigt einen Bergmann mit Helm, etliche Kaffeesorten erinnern mit Bildern und im Namen an die einstigen Kumpels, wie "Elbow Grease" oder "Italian Hall Espresso".

Revitalisierung mit Kunst und Essen

"Ich glaube, eine Revitalisierung an einem Ort beginnt mit Künstlern und Essen. Der Farmer’s Market hier zum Beispiel, als wir hierherkamen, waren da nur ein paar Leute. Und in diesem Jahr ist er ständig völlig ausgebucht mit 20 und mehr lokalen Händlern, die vom Gemüse bis zu Backwaren alles anbieten. Das ist für mich aufregend, denn, wenn man keine kulinarische Wüste ist, dann kommen auch die Leute in eine Region."
Im Café sitzt Dean Lahdy, ein junger Mann, der nach zehn Jahren zurück auf die Keweenaw kam. Er war mit der US Navy im kalifornischen Ventura stationiert, studierte danach in Colorado. Doch trotz Surfen und Berge zog es ihn zurück.
"Das ist hier Zuhause. Ich bin stolz darauf, dass von hier etliche Generationen meiner Familie sind, die bis zu meinen Großeltern zurückreichen, die aus Finnland kamen. Sie kamen, um in den Minen zu arbeiten. Auch mein Vater war im Bergbau. Meine Familie ist hier tief verwurzelt und ich wollte das gleiche hier in dieser Community erfahren. Jeder kennt hier jeden. Ein Beispiel, vor ein paar Wochen hatten wir ein großes Feuer hier gleich gegenüber und alle kamen zusammen, halfen, spendeten Kleidung, brachten die Leute unter, kochten für sie. All das in einer Community, in der keiner wirklich viel hat. Aber das macht den Charakter der Leute hier aus."

Einheit mit Rissen

Das hört man immer wieder. Hier werde einem geholfen. Doch die Spaltung der Nation ging auch an dieser Region nicht einfach spurlos vorbei. Die Keweenaw ist zu 70-80 Prozent republikanisch. Unter Donald Trump verschärfte sich die Stimmung. Drohungen gegen politisch Andersdenkende nahmen zu. Im September 2019 wurden in Hancock, einer Stadt nur etwa elf Meilen von Calumet entfernt an der Synagoge "Temple Jacob" Hakenkreuz und SS Schmierereien gefunden. Es war für viele wie ein Weckruf, doch es sollte nicht der einzige Vorfall bleiben, wie Jon Holt vom Parkservice berichtet. Diesmal wurde ein Hakenkreuz an eine Industrieanlage gesprüht, die vom "National Park Service" betreut wird.
Alter Industrie-Schornstein in Calumet in Michigan.
Alter Industrie-Schornstein in Calumet: Die Zeiten, wo hier alles zusammen hielten, sind vorbei.© imago images/nameinfame
"Wir konnten es zeitlich gut einordnen, das war aber insgesamt eine Herausforderung für uns, das wegzumachen. Ich war davon total schockiert... es tut mir leid... wie jemand aus dieser Community, egal ob Jugendlicher oder nicht, so etwas tun kann. Wir haben es dokumentiert und die Polizei eingeschaltet und es weggemacht."
Das Bild von der entlegenen und friedlichen Gegend, ja, von der heilen Welt, in der Migranten willkommen sind und sich jeder und jede kennt, sich gegenseitig hilft hat Risse bekommen. Rebecca Glotfelty zog es vor ein paar Jahren nach Calumet, sie übernahm ein altes Supermarktgebäude an der fünften Straße und baute es zu dem "Calumet Storytelling Center" aus. Hier findet alles Mögliche statt: vom Kindertheater bis hin zur eigenen Oldtime Radioshow. In der Community war man begeistert von ihrem Elan und ihren Ideen. Und auch von der Radioshow, die live vor Publikum eingespielt wird, in der viele Geschichten von der Keweenaw, ihren Menschen und Traditionen erzählt werden.
"Die Leute waren so freundlich, sie halfen mir. Alles war großartig. Auch wenn einige das anders sahen, für mich war alles toll. Mir wurde viel geholfen, alles war authentisch. Und dieses letzte Jahr, das war richtig hart. Richtig, richtig hart. Und ich habe mich noch diese Woche gefragt, warum das so ist. Was hat sich verändert?"

Die Polarisierung macht vor Calumet nicht halt

Sie erzählt von langen Wintern, von bis zu neun Metern Schnee, wo ein gutes Miteinander eigentlich essenziell ist. Doch die Polarisierung im Land, die allumfassende Politisierung selbst vom Maskentragen ist auch im Mikrokosmos Keweenaw deutlich zu spüren.
"Ich glaube, es ist eine sehr patriarchale Gegend. Vielleicht klingt das nun sexistisch, aber es ist das Fehlen von Frauen im öffentlichen Raum. Ich hoffe, das lässt sich ändern. Aber es gibt auch Einschüchterungen. Oftmals sogar. Die Leute trauen sich nicht, ihre Meinung offen zu sagen. Das hier ist im Kleinen, was im ganzen Land passiert."
Im Wahlkampf gab es mehrere Trump-Umzüge von begeisterten Anhängern des 45. Präsidenten, die in einer Parade von mehr als 500 Pick-ups eine Machtdemonstration zeigten. Viele von ihnen waren bewaffnet, beschimpften jene, die sich dem Zug nicht anschließen wollten. Und auch von hier reisten etliche selbsternannte "Patrioten" zur großen Trump-Veranstaltung am 6. Januar dieses Jahres, die dann zur Erstürmung des Kapitolgebäudes führte.
Calumet ist ein kleiner Ort, in dem man tief in das derzeitige Gemüt Amerikas blicken und die offenen Wunden und Narben der letzten Jahre erkennen kann. Was verwundert ist, wie diese Region relativ unbeschadet durch die Coronakrise kam. Die Infektionsraten waren nie allzu hoch, die Todesfälle überschaubar. Die Abgelegenheit der Keweenaw zog zahlreiche Menschen von außerhalb an, die erkannten, dass sie hier oben, abgeschnitten und umgeben vom "Lake Superior" problemlos von Daheim arbeiten konnten.
Galeristin Babette Jokela sagt, man sei auf dem richtigen Weg, der Höhepunkt des derzeitigen, gerade wirtschaftlichen Aufschwungs noch lange nicht erreicht.
"Ich habe an vielen wunderschönen Orten gelebt, aber sie alle waren nicht so vom Lake Superior geprägt. Ich kann das tief in mir spüren, diese Verbindung zum See, diese 'connection' zwischen dem See und dem Land und dann vom Land zu der Zähheit der Menschen. Es ist ein hartes und entlegenes Land, aber die Leute sind zäh und gastfreundlich. Das alles hat mich hierbleiben lassen und ich liebe es."
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