Cahier africain

Ein Schulheft über Kriegsverbrechen

Foto aus dem Film Cahier Africain
Foto aus dem Film Cahier Africain © Filmpunkt
Von Christian Berndt · 10.11.2016
Die Schweizer Regisseurin Heidi Specogna bekam zufällig Aufzeichnungen von Frauen in die Hand, die bei kriegerischen Auseinandersetzungen 2002 in der Zentralafrikanischen Republik massenhaft vergewaltigt worden waren. Ihr Dokumentarfilm "Cahier Africain" wurde mehrfach preisgekrönt.
Amzine erzählt von der Nacht im Oktober 2002, als kongolesische Söldner das Dorf überfielen. 7 Männer drangen ins Haus ihrer Familie ein, drei vergewaltigten sie. Das berichtet die junge Frau aus dem zentralafrikanischen Dorf PK 12 im Dokumentarfilm "Cahier Africain". Zu Deutsch in etwa "das afrikanische Heft". Gemeint ist ein einfaches Schulheft - der Ausgangspunkt für Film. Darin sind nicht nur die Erlebnisse von Amzine, sondern rund 300 weiteren Frauen, Mädchen und Männern niedergeschrieben. Sie alle waren Opfer der Gewalt kongolesischer Söldner, die befehligt wurden vom kongolesischen Politiker Jean Pierre Bemba. Er hatte Vergewaltigungen gezielt als Kriegsstrategie in den von ihm kontrollierten Gebieten angeordnet. Das Schulheft ist ein bemerkenswertes Dokument, denn Vergewaltigungsopfer gelten in Amzines Heimat als Schande, über das erlittene Leid zu sprechen ist dort tabu. Aber im Krieg 2002 war das anders, wie die Regisseurin des Films, die Schweizerin Heidi Specogna im Gespräch erzählt:
Specogna: "Es war ja dieser Überfall der Kongolesen in der Zentralafrikanischen Republik. Es gab Tausende von Vergewaltigungen, es war praktisch jedes Dorf davon betroffen. Und es war auch gar nicht möglich, dass ein Tabu groß greifen konnte, sondern jeder im Dorf hat das einfach mitbekommen."

Stimmungsvolles Bild vom Alltag

Specogna war bei einer Filmrecherche in Zentralafrika auf das Schulheft gestoßen. Sie lernte Amzine kennen, die als 17-jährige ein Kind von einem der Vergewaltiger bekam und deshalb im Dorf geächtet wurde, sich aber dann couragiert ein neues Leben aufgebaut hatte. So entstand die Idee, einen Film über Amzines Heimatdorf zu drehen:
"Irgendwann war ich in diesem Dorf so angekommen, dass es mich interessiert hat zu erzählen, wie ein Dorf nach so grauenhaften Erlebnissen es schafft, wieder in eine Normalität zurückzukommen. Ich plante eigentlich einen Film, der das Heilen von Wunden zeigt."
In Den Haag wurde zu dieser Zeit, im Jahr 2008, der Prozess gegen Jean-Pierre Bemba vorbereitet, in dem das Schulheft, das cahier africain als Beweismittel diente. Zum ersten Mal erfolgte eine Anklage wegen der Anordnung von Vergewaltigungen als Kriegsstrategie. Die Gesellschaft schien zu genesen. Doch gerade als Specogna zu drehen begann, brach der Krieg erneut aus:
"Bevor es eigentlich dazu kam, diesen Zustand zu dokumentieren, brach der neue Krieg los und hat alles zerrissen, was bis dahin ganz dürftig wieder zusammengewachsen war."
"Cahier Africain" schildert so das Geschehen im Land aus der Perspektive der Muslimin Amzine, ihrer Tochter Fane und der Christin Arlette. Der Film erzeugt in ausgedehnten Straßen- und Dorfszenen ein sehr stimmungsvolles Bild vom Alltag dieser Welt, bringt den Zuschauer mitten ins Geschehen. Specogna folgte ihren Protagonistinnen über 7 Jahre. Das merkt man dem Film, der zugleich persönliches Porträt und exemplarisches Gesellschaftsbild geworden ist, an. So unmittelbar wie dieses Dorfleben trifft den Zuschauer das hereinbrechende Kriegsgeschehen:

Erst fliehen die Christen, dann die Muslime

Die Vertreibungen gehen los, erst fliehen die Christen, dann die Muslime, auf den Straßen liegen Tote. Man erlebt, wie der Horror zum Alltag wird. Specogna und ihr Team versuchten in dem Chaos, ihren Protagonisten zu helfen – etwa, Amzine in Sicherheit zu bringen:
"Es gab keine Botschaften, es existierte überhaupt nichts mehr. Wir konnten sie nicht mal aus dem Dorf bringen, dafür hätte man durch zwei christliche Dörfer gemusst, und die haben alles, was muslimisch ist, aus dem Auto rausgezerrt und an der Stelle einfach totgemacht."
Wenn man die ängstlichen Menschen warten sieht, wird der Schrecken hautnah spürbar und lässt den Atem stocken. "Cahier Africain" erzählt davon, wie eine scheinbar gelungene Versöhnung plötzlich in alten Hass umkippt, als gebe es hier nur die ewige Wiederkehr des Gleichen. Und trotzdem bleibt am Schluss Hoffnung. Amzine gelingt die Flucht mit ihrer Tochter, und die beiden bauen sich in der neuen Heimat eine Hütte und einen Garten. Es sind poetische Bilder, die dieser nicht nur großartig fotografierte, sondern auch konsequent den forschenden Blick wahrende Film einfängt. Auch wenn sich das Filmteam am Drehbeginn völlig unerwartet vom Friedens- in ein Kriegsgebiet versetzt sah, hat Specogna keinen Moment daran gedacht, die Arbeit zu beenden:
"Das ist der Grund, warum wir diese Arbeit machen. Das ist mit einem starken Glauben verbunden, dass Dokumentarfilm eine Kraft hat und in der Lage ist, zu einer Einschätzung beizutragen, aufzurütteln und zu mobilisieren."
Filmhomepage von "Cahier Africain"
Mehr zum Thema