Naher Osten

Demokratisierung Libyens in Gefahr

Demonstrationen in Tripolis am dritten Jahrestag der Revolution
Demonstrationen in Tripolis am dritten Jahrestag der Revolution © dpa/picture alliance/Str
Hanan Salah im Gespräch mit Julius Stucke · 14.04.2014
Nach Ansicht von Human Rights Watch weist Libyen inzwischen viele Aspekte eines gescheiterten Staates auf. Der Justizsektor sei in Teilen bereits lahmgelegt, sagt Menschenrechtlerin Hanan Salah. Zum bevorstehenden Prozess unter anderem gegen zwei Söhne Gaddafis sagte sie, ihre Organisation mache sich große Sorgen um die Rechte der Gefangenen.
Julius Stucke: Wird juristisch aufgeräumt in Libyen? Heute soll ein Prozess beginnen gegen mehr als 30 Regimeanhänger und zwei Söhne des getöteten Machthabers Muammar al-Gaddafi. Aber Korrespondenten aus der Region melden uns schon am Wochenende vorsorglich mal, angesichts der Sicherheitslage im Land sei gar nicht klar, ob der Prozess denn wie geplant anfangen könne. Und damit sind wir mitten im Thema, nämlich in den chaotischen Zuständen in Libyen. Seit zweieinhalb Jahren ist Gaddafi nun tot, aber es geht nicht voran. Nicht die Übergangsregierung hat die Macht im Land, sondern bewaffnete Milizen. Und der Übergangspremier, er trat gestern nach gerade mal einem halben Monat schon wieder zurück. Wie ist die Lage im Land? Wo liegt ein Ausweg? Darüber spreche ich mit Hanan Salah, sie ist für die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch in Tripolis seit drei Jahren mittlerweile. Guten Morgen, Frau Salah!
Hanan Salah: Guten Morgen!
Stucke: Menschenrechte, Ihr Kernthema bei Human Rights Watch. Wie sieht es denn da aus, ist die Lage heute besser, schlechter oder genauso düster wie zu Gaddafis Zeiten?
Salah: Ich denke, dass wir heute vor einer Situation stehen, die sehr, sehr sensibel ist für dieses Land, ein Land, das wirklich seit über zwei Jahren jetzt versucht, zu einem Rechtsstaat zu werden. Die Menschenrechtslage in Libyen insgesamt hat sich zugespitzt in den letzten Jahren und wir als Menschenrechtsorganisation machen uns natürlich große Sorgen, speziell um die Rechte der Gefangenen. Seien es Offiziere oder seien es Leute, die mit Gaddafi gemeinsam in dieser Regierung zuständig waren. Wir machen uns Sorgen um Misshandlungen, wir machen uns aber auch Sorgen um den Zustand der Gerichte und der Gerichtsprozesse, weil wir hier eigentlich schwer in Libyen über richtige Maßnahmen oder faire Verhandlungsgarantien eigentlich sprechen können.
Stucke: Keine fairen Verhandlungen. Wie sehen Sie denn da den Prozess, der heute beginnen soll gegen frühere Gaddafi-Anhänger? Ist das ein wichtiger Prozess fürs Land?
Prozess hat Modellcharakter
Salah: Ich denke, dass diese Prozesse sehr wichtig sind. Der Justizsektor an sich steht vor einem Kollaps, kann man sagen, in diesem Land. Es ist in einigen Teilen des Landes der Justizsektor bereits lahmgelegt. Ich denke, dass dieser Prozess deswegen wichtig ist, weil es hier ja auch um sehr, sehr große Anschuldigungen geht, es geht hier um Kriegsverbrechen, die man diesen 37 vorwirft. Ich denke, dass die ganze Welt zusieht, viele Menschenrechtsorganisationen und andere Organisationen werden natürlich sehr darauf achten, wie die libysche Justiz eigentlich mit diesem Prozess umgeht. Weil ich glaube, dass das auch sich dann reflektieren wird auf die anderen, weit weniger wichtigen Prozesse gegen Gaddafi-Anhänger, die derzeit in den Gefängnissen von Libyen gefangen gehalten werden.
Stucke: Sie sagen, die Welt schaut hin, und es ist auch wichtig, dass die Welt jetzt hinschaut. Aber hat sie in den vergangenen Monaten vielleicht viel zu lange weggesehen, also zugelassen, dass es zu den Zuständen kommt, die Sie jetzt beschreiben? Mangelnde Rechtsstaatlichkeit, ich habe es vorhin erwähnt, die Regierung hat keine Macht, ist ohnmächtig gegenüber Milizen. Hat die internationale Gemeinschaft da viel zu lange weggeschaut?
NATO-Staaten haben ihre Verantwortung nicht voll wahrgenommen
Salah: Ich beobachte den ganzen libyschen Kontext seit fast drei Jahren jetzt, ich bin selber im Lande seit drei Jahren ungefähr. Und ich denke, der wichtigste Moment in Libyen, das war der Moment, nachdem Tripolis gefallen ist. Ich glaube, das war ein Moment, wo die internationale Gemeinschaft hätte stark sein müssen und hätte auch zeigen müssen, dass man jetzt diesem Staat helfen wird, damit sich dieser Staat auch aufbauen kann. Ich denke, es war klar vom ersten Moment an, seit dem 21. August 2011, dass sich das Land einfach nicht selbst erholen wird und dass es diese vielen unterschiedlichen Gruppen und diese Fragmentierung, die es wirklich in diesem Land gibt, dass man speziell im Aufbau der Institutionen, im Justizsektor, Polizei und Armee Hilfe brauchen wird. Und ich denke, dass speziell die Länder, die der NATO angehören und den NATO-Streitkräften, die eine große Rolle gespielt haben in diesem Konflikt, eine spezielle Verantwortung haben. Und ich denke nicht, dass diese Verantwortung voll wahrgenommen ist.
Stucke: Was konkret sollten denn andere Länder tun, was sollte zum Beispiel Deutschland Ihrer Ansicht nach jetzt tun?
Salah: Ich meine, in diesem Moment ist es schwierig, einfach zu sagen, wir machen eins, zwei, drei und die Sache ist getan. Die Sache ist leider nicht getan. Die Situation in Libyen ist wirklich sehr fragmentiert. Der gesamte Sicherheitssektor muss gestärkt werden, die Institutionen des Landes, die Polizei, die Armee müssen gestärkt werden, aber auch natürlich der Justizsektor. Ich denke, dass Deutschland eins der Länder war, die damals, nachdem dieses Regime, diese Gaddafi-Regierung gestürzt worden ist, war Deutschland eins der Länder, die damals gemeint haben, dass sie dem Land helfen werden speziell im Justizsektoraufbau. Es ist leider keine einfache Antwort auf eine wirklich sehr, sehr, komplizierte Frage.
Stucke: Ja. Heute soll ja auch die verfassungsgebende Versammlung in Libyen tagen. Wie kann es denn möglich sein, einem Land mit solchen Zuständen, wie Sie beschreiben, mit solchen Schwierigkeiten, mit unterschiedlichen Gruppen und unterschiedlichen Interessen eine Verfassung zu geben, die das Land voranbringt? Wie kann diese verfassungsgebende Versammlung denn Erfolg haben, obwohl sie gar nicht von allen akzeptiert wird?
Alles hängt an einem seidenen Faden
Salah: Ich meine, natürlich, in so einem Demokratisierungsprozess ist es wichtig, dass Libyen eines Tages eine Verfassung hat, eine Verfassung, die alle Bürger in diesem Land schützt. Und das genau steht derzeit in Gefahr. Falls Ihre Zuhörer das mitbekommen haben, gab es wirklich große Schwierigkeiten. Während der Wahlen für dieses Komitee hat es wirklich sehr, sehr viel Gewalt gegeben. Und ich denke, dass es schwierig sein wird, den Prozess zu beginnen, wenn es wichtige Gruppen, wenn ganze Gruppen, ganze Gesellschaftsgruppen dort gar nicht repräsentiert werden.
Stucke: Würden Sie sagen, Frau Salah, in diesem Moment ist Libyen schon ein gescheiterter Staat?
Salah: Ich denke, wenn man sich das Land und die Entwicklungen in diesem Land ansieht, so sind die Aspekte von einem gescheiterten Staat da. Ein Land, eine Regierung, ein Staat, der keine Kontrolle über das gesamte Territorium des Landes hat, eine Regierung, die nur einer der Partner ist in diesem Land, wo es andere, weit Mächtigere gibt … Was man von unserer Sicht aus hier in Tripolis derzeit sehen kann, ist, dass alles wirklich an einem seidenen Faden hängt. Heute zum Beispiel stehen wir Schlange, um die Autos mit Benzin anzufüllen, weil wieder ein Teil des Landes streikt. Das sind Dinge, an die man sich hier gewöhnt hat, aber die auch zeigen, wie schwer es wirklich für diese Interimsregierung und dieses Interimsparlament bis jetzt gewesen ist, das Land unter Kontrolle zu haben und einen Rechtsstaat hier einzubringen, einen Rechtsstaat, den es hier eigentlich so gesehen wirklich nie gegeben hat.
Stucke: Sagt Hanan Salah, für Human Rights Watch in Libyen, in Tripolis, und für uns heute im Gespräch. Danke dafür, Frau Salah!
Salah: Danke ebenfalls!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema