Buschkowsky: Deutschtest-Klassen sind keine Lösung

Heinz Buschkowsky im Gespräch mit Jürgen König · 22.10.2009
Der Bürgermeister von Berlin-Neukölln, Heinz Buschkowsky, spricht sich dafür aus, das für die Kindergeld-Erhöhung vorgesehene Geld stattdessen in die Bildungsinfrastruktur und vorschulische Erziehung zu stecken.
Jürgen König: Die Gustav-Falke-Grundschule in Berlin-Wedding versucht, mit einer Deutschprüfung und besonderen Angeboten neue Schüler zu gewinnen, um das Image der Schule und des Bezirks zu verbessern, die grassierende Abwanderung einkommenskräftiger Familien zu verhindern. Jetzt stelle ich Ihnen den Bürgermeister einer Stadt vor, sie hat 302.000 Einwohner, diese stammen aus 162 Ländern, jeder zweite von ihnen verdient weniger als 700 Euro im Monat: Heinz Buschkowsky, Bürgermeister von Berlin-Neukölln. Schön, dass Sie gekommen sind!

Heinz Buschkowsky: Guten Tag!

König: Was sagen Sie zu dem Modellversuch der Gustav-Falke-Grundschule in Wedding?

Buschkowsky: Na ja, das ist eigentlich ein Dokument der Hilflosigkeit, ein Notschrei. Die Schule sieht, dass sie in einer fast aussichtslosen Situation ist, die bildungsorientierten Eltern geben die Kinder dort nicht hin aus Sorge über den Lernfortschritt. Die Schule sinkt damit im Niveau immer tiefer ab und letztendlich wird sie dann irgendwann sich selbst in Frage stellen dadurch.

König: Aber dann ist das doch jetzt ein erster Schritt, das zu ändern.

Buschkowsky: Das kann man so sehen. Ich persönlich – ohne die geringste Kritik an dem Kollegium … das ist ein Kollegium, was irgendwas unternimmt. Sie sagen, wir müssen irgendwas tun. Aber es ist der Offenbarungseid für unser traditionelles Schulsystem in diesen Gebieten: Wir sehen, dass wir dort so nicht weiterkommen, wie wir es bisher gemacht haben, und dass wir dort einfach einen anderen Typus Schule brauchen. Wir brauchen dort Schulen, die nicht nur Lesen, Schreiben, Rechnen vermitteln, sondern die Sozialisationsinstanz sind, die die Probleme, die Defizite der Eltern mit aufnehmen.

König: Na gut, aber ich meine, Rechnen, Schreiben, Lesen wird da ja auch vermittelt, nur eben nach anderen Anforderungen, zum Beispiel einem Deutschkurs zu Beginn des Schuljahres, sodass gleich klar wird: Die, die da zusammen kommen, die können miteinander besser sprechen, schreiben, lesen.

Buschkowsky: Ja, das ist aber nur vordergründig. Sie müssen schon einen Blick tiefer tun. Die Kinder, die die deutsche Sprache nicht oder nur radebrechend beherrschen, die haben nur einen ganz eingeschränkten Wortschatz. Sie müssen mit denen einen ganz anderen Deutschunterricht machen als mit Kindern, die die Umgangssprache selbstverständlich beherrschen. Das hat Auswirkungen, das heißt, in diesen Klassen ist der Lernfortschritt geringer. Das wissen wir auch in Neukölln, die Situation ist bei uns nicht anders als dort. Und was hier gemacht wird, ist quasi eine kleine Eliteklasse in der Schule zu bilden. Liebe Eltern, wir versprechen euch, dass eure Kinder in eine Normalklasse kommen und nicht in eine Klasse, wo wir uns am schwächsten Kettenglied orientieren müssen. Und so versucht man dann, die bildungsorientierten Eltern zu halten. Aber das kann überhaupt nicht darüber hinwegtäuschen, dass das doktern am Symptom ist. Wir brauchen in diesen Gebieten Ganztagsschulen, wir brauchen dort Sozialarbeiter, wir müssen dort eigentlich die Bildungsferne der Eltern mit auffangen, weil die Ursache, dass die Kinder so zur Schule kommen, ist doch, dass zu Hause auch so gut wie keiner deutsch spricht, dass Vater und Mutter, manchmal auch beide, Analphabeten sind, nie eine Schule von innen gesehen haben und dass, wenn das Kind nach Hause kommt, es zehn Minuten später vorm Fernseher sitzt. Die Hausaufgaben werden nicht begleitet, es wird dort auch nicht gespielt, es wird nicht vorgelesen, es gibt keine Bücher, und das führt dann zu diesem Milieu einer Bildungswüstelei.

König: Aber wenn Sie, Herr Buschkowsky, sagen, herumdoktern am Symptom – Sie haben ja recht damit, aber ist es nicht trotzdem besser, so etwas zu tun, als einfach weiter zu wurschteln wie bisher?

Buschkowsky: Aber diese eine Klasse bringt Sie doch nicht weiter. Denken wir das doch mal zu Ende durch, eine zweite, eine dritte, eine vierte Klasse so, dann ist dieses Schulgebäude voll. Wo lasse ich jetzt diese halbe Schule mit den Kindern, die ich jetzt nicht mehr aufnehmen kann, weil ich die anderen mit Eliteklassen gezogen habe? In welche Schule tue ich die dann? Das Problem ist doch, dass die Kinder in diesem Wohngebiet so sind, wie sie sind, und ich muss sie dort beschulen. Es gibt ja dieses amerikanische System, Busing nennt man das, man fährt die Kinder in andere Sozialräume, um sie zu mischen. Das hat nur einen Nachteil: Wenn ich die Hälfte der Neuköllner Schüler nach Zehlendorf fahre, also ins gutbürgerliche Gebiet, dann muss ich die andere Hälfte aber aus Zehlendorf wieder nach Neukölln zurückbringen. Glauben Sie wirklich, dass Sie dafür politische Unterstützung bekommen? Das sind Vorstellungen, die überhaupt nicht real sind.

König: Wenn Sie das Busing ansprechen: In Neukölln ist ja eine kuriose Situation, dass, wenn man zum Beispiel in den Nachbarbezirk geht von Neukölln oder auch von Kreuzberg aus, also etwa in den Prenzlauer Berg oder nach Mitte – dort haben Sie Migrantenanteile im Promillebereich an den Schulen. Wäre es nicht sinnvoll, das trotzdem ein bisschen auszugleichen, also Migrantenkinder zum Beispiel aus Kreuzberg oder Neukölln auf andere Schulen zu verteilen? Also einfach so in dieses sich geschlossene System zu [Anm. d. Red.: Auslassung, da unverständlich]?

Buschkowsky: Also, dahinter steht ja die Auflösung der Grundschulbereiche, hinter dieser Theorie.

König: Die Zuständigkeitsbereiche, dass man da zur Schule geht, wo man wohnt.

Buschkowsky: Ja. Wenn Sie das in Reinkultur zu Ende denken, heißt das, dass Sie eine Schulflucht haben, ganz eindeutig. Dann ist es ja noch nicht mal mehr erforderlich, das – was viele Eltern heute tun – mit dem Möbelwagen abzustimmen, indem sie mit dem Schuleintritt einfach woanders hinziehen, sondern dass man dann qua Anmeldung entscheidet. Das vervollkommnet eigentlich die Segregation, eigentlich die soziale Entmischung. Das kann die Lösung nicht sein. Die Lösung muss andersrum gehen. Wir müssen die Schulen dort so ertüchtigen, dass auch bildungsorientierte Eltern sagen, bor, die Schule ist top, die hat ein solches Profil, die bietet das und das an, sie hat auch bestimmte Förderinstrumente, und mein Kind wird dort genauso seinen Weg gehen wie woanders. Aber davon sind wir meilenweit entfernt.

König: Und woher soll jetzt die Kraft kommen, das zu schaffen, und das Geld?

Buschkowsky: Na, erst mal durch die normative Kraft des Faktischen: Irgendwann müssen die Kultusministerien einsehen, dass sie mit dem Aussitzen dieser Probleme nicht weiterkommen, weil das ist ja nicht nur Wedding und Neukölln, das ist Duisburg-Marxloh, Essen-Katernberg, Hamburg-Wilhelmsburg, überall genau dasselbe. Weil die Probleme wachsen auf und sie werden drängender. Das Zweite ist: Das Geld ist da für mich da überhaupt kein Problem, aus zwei Gründen. Erstens: Als das Finanzsystem am Zusammenbrechen war, da konnte man innerhalb von Stunden die Verfassung ändern und Milliarden herbeischaufeln. Ich kritisiere die Entscheidung nicht, sie war richtig, aber wenn Druck da ist, bewegt sich Politik schon. Und das Zweite ist: Fast alle anderen Länder der OECD investieren in die Kinder, in Krippen, in Kindergärten, in Kindergartenpflicht, in Ganztagsschulen, in kleinere Klassen, in Essen, in die Kinder, und wir investieren in Eltern. In anderen … Wir geben das meiste Geld für Familienpolitik aus von allen OECD-Staaten, und wir stehen in der Nachhaltigkeit und in der Effizienz an drittletzter Stelle. Nur die Slowakei und Nordkorea ist hinter uns. Das heißt, es können doch nicht alle anderen Länder irren. Sie schneiden auch besser ab. Wir müssen in Kinder investieren und nicht in Eltern. Die sich bildende neue Bundesregierung geht genau diesen gleichen falschen Weg weiter. Sie haben gerade beschlossen: Und wir erhöhen das Kindergeld um weitere 25 Euro. Sie sollten das Geld nehmen, diese Milliarden, und in die Bildungsinfrastruktur stecken und in die vorschulische Erziehung. Das wär mal eine echte Strukturentscheidung. Wissen Sie, wenn Sie die letzte Kindergelderhöhung nehmen von diesem Jahr, diese 10 und 16 Euro – das hätte ausgereicht, die gesamte Vorschulerziehung in der Bundesrepublik Deutschland für alle Kinder kostenlos zu machen. Und dann würden wir auch langsam an dieses Problem rankommen, dass sich die Bildungsferne und die Bildungsdefizite und Erziehungsdefizite aus Elternhäusern – es sind ja nicht nur migrantische, es gibt ja auch deutsche Unterschichten –, dass sich nicht die in den Kindern immer wieder fortpflanzen und dass von Generation zu Generation eine Renaissance erlebt. Wir brauchen dort Schulen, die einfach professioneller mit der Bildungsferne umgehen können. Heute können sie es gar nicht.

König: Für eine neue Bildungspolitik – ein Gespräch mit Heinz Buschkowsky, dem Bürgermeister von Berlin-Neukölln. Vielen Dank!