Bundestagsabgeordnete trotz Rentenalter

Keine Lust auf Ruhestand

06:49 Minuten
Porträt von Bettina Hagedorn (SPD), Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium der Finanzen, 2020.
Mit ihrem Einzug in den Bundestag 2002 ging sie direkt in den Finanzausschuss: "Ich bin die Dienstälteste", sagt Bettina Hagedorn heute. © imago / Christian Spicker
Von Nils Erich · 07.06.2021
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Wenn im September ein neuer Bundestag gewählt wird, werden viele Abgeordnete in den Ruhestand gehen. Aber einige wollen über das Rentenalter hinaus weitermachen, allem Stress zum Trotz – auch Bettina Hagedorn: Sie erklärt, warum sie noch mal antritt.
An Abenden wie diesem zwitschern nur Vögel über die Gartenbank hinweg. Hier, auf ihrem Balkon in Berlin-Charlottenburg, kommt Bettina Hagedorn dann zur Ruhe. Seit 38 Jahren ist sie in der Politik, die Hälfte davon als Abgeordnete im Bundestag. Davor war Hagedorn gut 20 Jahre Kommunalpolitikerin in der Gemeinde Kasseedorf in Schleswig-Holstein.
"Ich liebe diesen Job", sagt Hagedorn. "Ich liebe die Arbeit in der Politik; und ich glaube, wenn man das nicht tut, dann kann man das auch nicht machen, schon gar nicht so lange. Ich hätte ja längst aufhören können, ich bin 65 Jahre alt, aber es macht mir so viel Freude, und ich glaube, dass daraus die Kraft erwächst, die man dann für diesen Job auch braucht. Und ich bin an eine 60-Stunden-Woche absolut gewöhnt."

Eine der bekanntesten Finanzpolitikerinnen Deutschlands

"Unsere Power-Frau" wurde Hagedorn genannt von Serpil Midyatli, der SPD-Vorsitzenden in Schleswig-Holstein. Hagedorn, gelernte Goldschmiedin, ist heute eine der bekanntesten Finanzpolitikerinnen Deutschlands. Eine ihrer Mitarbeiterinnen sagt über ihre Chefin: Aus ein paar Zahlen kann Hagedorn eine Geschichte erzählen.
"Haushaltspolitik ist einfach mein Ding. Ich habe auch in Kasseedorf 20 Jahre lang den Finanzausschuss gemacht, insofern liegen mir die Zahlen und was sich damit verbirgt. Und natürlich weiß jeder in der Politik: Da, wo das Geld liegt, da liegt die Macht", sagt Bettina Hagedorn.
Mit ihrem Einzug in den Bundestag 2002 ging Hagedorn direkt in den Finanzausschuss. Damals eine absolute Männerdomäne. Hagedorn galt als "junges Küken".
"Aber das Schöne ist: Ich fühle mich zu Hause. Ich bin seit 2002 in diesem Ausschuss, ich wollte nie in einem anderen Ausschuss sein, und ich kenne natürlich alle Kollegen, seitdem sie da sind – ich bin die Dienstälteste", erzählt sie.
Auch deswegen hat Olaf Scholz sie vor drei Jahren als Parlamentarische Staatssekretärin ausgewählt. Hagedorn arbeitet jetzt also auch für das Finanzministerium, zusätzlich zum Job als Abgeordnete.

"Ich würde auch gerne reisen!"

Im September 2021 erreicht die Politikerin ihr Rentenalter. Was heißt das für sie?
"Ich kann mir ja ehrlich gesagt auch ein Leben ohne Politik vorstellen, so ist es ja nicht. Ich habe vor mehreren Jahren noch gesagt, ich höre mit 65 auf – weil ich ja auch viele Hobbys habe. Ich bin künstlerisch früher total aktiv gewesen. Das habe ich ja seit 40 Jahren alles nicht mehr gemacht, obwohl es mir sehr viel Freude macht. Ich würde auch gerne reisen!"
Loslassen will Hagedorn trotzdem noch nicht: Zur Wahl im September 2021 tritt sie wieder an.
Sie erklärt: "Ich hätte ja vor einem Jahr ankündigen müssen, dass ich nicht wieder antrete, damit meine Partei in Ostholstein die Chance gehabt hätte, sich nach Nachfolgern umzugucken. Und ich fand, das fühlte sich so ein bisschen so an, als wenn man dann von außen betrachtet denken könnte: Aha, die Ratten verlassen das sinkende Schiff."
Hagedorn meint, sie sei es "den Jungpolitikern auch schuldig, dass ich meinen Beitrag leiste in den nächsten vier Jahren mit meiner Erfahrung. Ich bin ja Teil der Regierung. Und diese Schulden, die wir jetzt machen, durch Corona und wegen Corona, das wird ganz oben auf der Agenda stehen und natürlich der Kampf gegen den Klimawandel, was auch mein Herzblut hat."
Aber nicht nur darum kandidiere sie wieder, sondern "natürlich auch, weil ich einfach Bock drauf habe. Also ich habe einfach Spaß dran."

"Es hat sich alles gelohnt"

Dabei kann Politik ziemlich stressig sein: Ohne Mittagessen durch den Tag, Tausend Termine, lange Sitzungen, 60-Stunden-Woche. Bettina Hagedorn zündet sich eine Zigarette an – Gauloises, die roten. Warum tut man sich das an? Was macht die Macht mit der Politikerin?
"Das erfüllt einen wirklich mit Anspannung. Und mit Adrenalin. Und wenn man es geschafft hat: mit einem Glücksgefühl, mit einer Zufriedenheit", sagt Hagedorn. "Natürlich kriegt man auch reichlich Schläge. Und hat ja auch nicht immer Erfolg. Das muss auch klar sein. Also eine hohe Frustrationstoleranz braucht man schon auch."
Nur wofür? Warum sich für alles zuständig und verantwortlich fühlen? Hagedorn sagt, in ihr brenne "dieses Feuer, dass man diese Welt, um das mal ganz hoch anzusiedeln, nicht sich selbst überlassen darf." Sie habe von Anfang an gemerkt, wie viel sie in der Politik erreichen könne, wenn sie sich reinhängt. "In meiner eigenen Gemeinde, da wohne ich über 40 Jahre, in einem Baugebiet, das ich mal als Bürgermeisterin selbst auf den Weg gebracht habe. Das ist eines der ersten ökologischen Baugebiete in ganz Schleswig-Holstein. In der Gemeinde habe ich einen Kindergarten aufgebaut."
Hagedorn sagt, sie habe die Gemeinde so mitgestaltet, dass sie sie lebenswert findet: "Dann merkt man immer: Es hat sich irgendwie alles gelohnt. Also, was man in der Politik bewegt, das ist etwas, was bleibt. Und das ist natürlich auf der Bundesebene genauso. Es ist nur alles viel größer."

17 Stunden Sitzung – und weiter geht es

Hagedorn scheint eine unglaubliche Energie in die Politik zu bringen. So erzählt sie von legendär langen Sitzungen im Haushaltsausschuss, sogenannten Bereinigungssitzungen.
"Diese Sitzung dauert in der Regel 17 Stunden, einmal im Jahr. Seit 2002 habe ich das jedes Jahr mitgemacht, und ich bin noch nie müde geworden. Ich brauch keine Aufputschmittel, nichts, weil man so voller Adrenalin ist", erzählt sie.
"Weil in diesen 17 Stunden stellen wir ja die Weichen für den Haushalt der Bundesrepublik für ein ganzes Jahr. Das ist schon eine ganz heiße Kiste, und wenn man dann am nächsten Morgen um neun wieder im Plenum sitzt, nach gar keinem Schlaf oder nach vielleicht zwei Stunden, dann ist man immer noch nicht richtig müde. Das kommt dann erst am Tag danach."
Keine Aufputschmittel? Tatsächlich, aus Hagedorns Tee-Schachtel lugen nur unschuldige Entspannungs- und Erkältungstees. Keinen schwarzen, grünen, nicht mal Früchtetee kann sie anbieten. Nach zwei Stunden Interview könnte Hagedorn wohl immer noch weiterreden. Wenig später leuchtet die Sonne schon ganz golden über das Charlottenburger Schloss.
Am nächsten Tag, kurz vor 12 Uhr, macht Bettina Hagedorn draußen vor dem Bundestag eine kurze Raucherpause. Dann ein Anruf und plötzlich Hektik: Olaf Scholz kommt erst später zur Fragestunde im Bundestag. Das heißt, jetzt muss Bettina Hagedorn als Parlamentarische Staatssekretärin einspringen und ganz schnell auf die Regierungsbank. Sie raucht noch auf – und dann ist sie schon wieder weg, im Einsatz für die Politik.
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