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Vor 90 Jahren Uraufführung von "Fegefeuer in Ingolstadt"
Ungeschönter Blick auf die Probleme

Am 25. April 1926, vor 90 Jahren, wurde das Stück "Fegefeuer in Ingolstadt" am Deutschen Theater in Berlin vorgestellt. Für Marieluise Fleißer war es der Beginn ihrer Karriere. In ihrem Stück ließ sie verzweifelte Jugendliche Zuflucht in einer religiösen Verstiegenheit suchen, die ihnen am Ende doch keine Erlösung bringt.

Von Eva Pfister | 25.04.2016
    Die deutsche Schriftstellerin Marieluise Fleißerin einer undatierten Aufnahme. Ihre Dramen "Fegefeuer" und "Pioniere in Ingolstadt" enstanden in den 20er-Jahren, im Dritten Reich wurde ihr Schreibverbot erteilt.
    Die Schriftstellerin Marieluise Fleißer. (picture-alliance / dpa / DB)
    Roelle: "Hier stehe ich und lächle mit Sanftmut und geborstenen Lippen. Schlecht soll es ihnen gehen an mir, das habe ich mir auf durchgewetzten Knieen hergebettelt. Jetzt können sie sich nicht rühren."
    In Marieluise Fleißers erstem Theaterstück machen Jugendliche einander das Leben zur Hölle. Der Außenseiter Roelle sieht seine Stunde gekommen, als die Gymnasiastin Olga ungewollt schwanger wird.
    - Roelle: "Ich frage sie als ihr Katechet, dies Kind ihrer befleckten Empfängnis, ist es ihnen ein Gegenstand der Liebe oder des Hasses?"
    - Olga: "Es ist nicht anders als mein Widersacher."
    - Roelle: "Ich frage sie als Ihr Katechet: Leugnen sie, dass sie es haben beseitigen wollen?"
    - Olga: "Hätte es meine Mutter an mir getan!"
    Die jugendlichen Protagonisten sind geprägt von einer repressiven katholischen Erziehung, die auch die Autorin am eigenen Leib erfahren musste. Als sie mit 22 Jahren "Fegefeuer in Ingolstadt" schrieb, hatte sie sechs Jahre in einem Klosterinternat in Regensburg hinter sich:
    "Ja, und das war deswegen notwendig, weil ich dort ins Realgymnasium gehen musste. Also in Ingolstadt gab es ja noch keinerlei Gymnasium für Mädchen."
    Marieluise Fleißer wurde 1901 in Ingolstadt geboren und studierte nach dem Abitur in München Literatur und Theaterwissenschaft. Aus dem Klosterstift, in das ihr Vater sie einquartiert hatte, brach sie aus, zog nach Schwabing und wagte sich in die Künstlerbohème. Auf einem Faschingsball lernte sie den Schriftsteller Lion Feuchtwanger kennen, dem sie ihre ersten Prosaversuche zeigte.
    "Er hat es aber alles verworfen, das war expressionistisch. Und er hat gesagt, man schreibt heute anders, man schreibt heute Neue Sachlichkeit. Und dann habe ich mich bemüht, das zu schreiben, was ich mir unter Neuer Sachlichkeit vorstellte."
    Widerspruch von Brecht, Feuchtwanger - und klösterlicher Erziehung
    Feuchtwanger gab der Studentin auch Manuskripte seines Freundes Bertolt Brecht zu lesen: die Stücke "Baal" und "Trommeln in der Nacht". Diese Texte waren für die Fleißer ein entscheidender Impuls:
    "'Fegefeuer in Ingolstadt' ist aus dem Zusammenprall zwischen meiner klösterlichen Erziehung und meiner Begegnung mit Lion Feuchtwanger und den frühen Werken Brechts entstanden. Das hat sich nämlich nicht miteinander vertragen."
    Diesen Widerspruch machte die junge Autorin auf geniale Weise in ihrem Stück fruchtbar. Sie übernahm die ungeschönte Direktheit, mit der Brecht Probleme dramatisch gestaltet, ließ aber ihre verzweifelten Jugendlichen Zuflucht suchen in einer religiösen Verstiegenheit, die ihnen am Ende doch keine Erlösung bringt. Aus dem Kontrast ergeben sich beklemmende Sprachbilder.
    - Roelle: "Ich will sagen, beuge dein Knie, und sie wird da beugen ein Knie, und wird wie eine Hörige sein vor meinem Gesicht."
    - Olga: "Was tun sie mit einem glasigen Kopf so nah bei mir da?"
    - Roelle: "Der Hals und die Arme sind mein. Das ist was zum Hinhängen für mich."
    Bertolt Brecht erkannte das Talent von Marieluise Fleißer sofort. Durch seine Vermittlung erlebte "Fegefeuer in Ingolstadt" am 25. April 1926 seine Uraufführung.
    "Das war am Deutschen Theater Berlin, allerdings nur in einer Sonntagmorgenaufführung. Und zwar hat das der Moritz Seeler inszeniert, der damals die sogenannte junge Bühne leitete. Die Schauspieler haben dort umsonst gespielt. Man hat dafür sehr begabte Schauspieler bekommen, weil sie wussten, sie werden von der ersten Kritikergarnitur kritisiert."
    Tatsächlich saßen in dieser Matinee die beiden Kritikerpäpste Berlins Alfred Kerr und Herbert Ihering im Publikum und stimmten ausnahmsweise sogar in ihrem Urteil überein. Alfred Kerr sah zwar eine verdächtige stilistische Nähe zu Brecht, schrieb aber zugleich:
    "Die ersten zwei Akte so gehalten-stark, wie Brecht mit seiner hübschen Luftstimmungsfabrik sie bisher nicht gekonnt hat. Wenn somit eine Anneluise Fleißer existiert, scheint sie eine Beobachterin, eine kostbare Abschreiberin kleinmenschlicher Raubtierschaft im hiesig-heutigen Mittelalter."
    Durch diesen Erfolg wurde Marieluise Fleißer eine feste Größe im deutschen Literaturbetrieb, bis sie sich 1933 in die innere Emigration nach Ingolstadt zurückzog. Erst 45 Jahre nach der Uraufführung kam "Fegefeuer in Ingolstadt" wieder auf die Bühne – und wurde bald von vielen Theatern nachgespielt.
    Heute gehört das Stück zum Kanon der deutschen Dramatik des 20. Jahrhunderts.