"Bundeskanzler sollte besser zurücktreten"

Moderation: Marie Sagenschneider · 30.06.2005
Vor der Vertrauensfrage des Bundeskanzlers an den Bundestag hat Rupert Scholz vom Institut für Politik und öffentliches Recht das angestrebte Verfahren kritisiert. Es wäre besser, wenn Gerhard Schröder zurücktrete, sagte Scholz. Es sei offenkundig, dass das Scheitern der Vertrauensfrage "inszeniert" werde.
Sagenschneider: Er war für die CDU Justizsenator, Verteidigungsminister und lehrt nun am Institut für Politik und öffentliches Recht an der Universität München. Guten Morgen, Herr Scholz.

Scholz: Guten Morgen.

Sagenschneider: Wird die erste wichtige Frage sein, wie der Kanzler die Vertrauensfrage stellt und wie er sie begründet?

Scholz: Das wird schon mit eine große Rolle spielen bei der Entscheidung, die im Ergebnis der Bundespräsident zu treffen hat. Der Bundespräsident kann nach Artikel 68 Grundgesetz den Bundestag nur auflösen, wenn - so das Bundesverfassungsgericht in einer maßgebenden Entscheidung hierzu - wenn der Bundeskanzler darlegen kann, dass er nicht mehr politisch handlungsfähig ist. Dass er im Verhältnis zum Bundestag, beziehungsweise zu der ihn bisher tragenden Bundestagsmehrheit keine Grundlage mehr hat, seine politischen Programme, Inhalte et cetera durchzusetzen. Und da genügt nicht alleine, dass so ein Misstrauensvotum zustande kommt, das ja im Grunde - wie offenkundig ist - hier inszeniert wird.

Sagenschneider: Das heißt es reicht nicht, wenn er einfach nur sagt, ich habe nicht den Rückhalt meiner Partei, eine stetige Verlässlichkeit ist da für mich nicht auszumachen, sondern was müsste er machen, konkrete Beispiele nennen?

Scholz: Er muss das schon belegen.

Sagenschneider: Aber wie belegt man so etwas?

Scholz: Ja, das muss er dem Bundespräsidenten gegenüber tun. Wenn Sie an den Fall denken, den das Bundesverfassungsgericht entschieden hat. Das war der Fall 1982, Helmut Kohl. Und da hat das Bundesverfassungsgericht damals übrigens ganz genau auch geprüft, wie denn die Situation war. Und da ergaben sich in der Tat triftige, überzeugende Gründe, die das Bundesverfassungsgericht dann auch anerkannt hat, weil die FDP, die ja zuvor den Koalitionspartner gewechselt hatte und eine ganze Reihe von so genannten Sozialliberalen der FDP mit diesem Wechsel von der SPD zur Union als Koalitionspartner nicht einverstanden waren. Das heißt, die FDP bröselte und das musste Helmut Kohl ganz genau darlegen, dem damaligen Bundespräsidenten Carstens. Und dann hat das Bundesverfassungsgericht das eben so aufgenommen, dass er hier einen Koalitionspartner hat, auf den er sich im Grunde nicht im Sinne einer klaren Mehrheit auf Dauer verlassen kann. Und deshalb Neuwahlen. Das war eine ganz klare Konstellation. Aber wenn man jetzt die Situation bei Rot-Grün mit damals vergleicht, bei beiden Parteien sind vergleichbare Tendenzen oder ähnliches nicht festzustellen. Es ist auch nicht festzustellen, dass man nicht handlungsfähig ist. Man verabschiedet ja, so hat man sich verständigt, noch gemeinsam rund neue Gesetze bis zu den angestrebten Neuwahlen. Das alles belegt, dass Schröder dem Bundespräsidenten noch einiges wird unterbreiten müssen, damit der Bundespräsident die gewünschte Entscheidung treffen kann.

Sagenschneider: Wird es eine Rolle spielen, wie viele Abgeordnete der SPD der Empfehlung - oder der Einladung, so hat er es ja genannt - von Franz Müntefering folgen werden, sich der Stimme zu enthalten. Also sagen wir mal, wenn es jetzt 90 Prozent wären, würde man dann sagen, das ist eindeutig?

Scholz: Das wird man auch so nicht sagen können, denn es ist ja inzwischen die Frage, was eigentlich dahinter steht. Geht es eigentlich um Misstrauen, um Vertrauen oder geht es nur darum, den Bundestag aufzulösen? Hier ist ja auch - man könnte fast sagen amateurhaft - hin und her geschwankt worden. Man hat zunächst gesagt, es sollen sich nur die Minister der Stimme enthalten. Das ist natürlich ziemlich deutlich manipulativ. Ein Minister, der nicht mehr das Vertrauen zu seinem Bundeskanzler, zum seinem Regierungschef hat, der tritt im Übrigen zurück. Der geht nicht in eine solche Abstimmung hinein und sagt, ich enthalte mich mal, ich komme da gar nicht hin oder ähnliches. Das Ganze riecht doch eben sehr manipulativ. Und man kann sich eigentlich nur auch wiederum an die Situation 1982 erinnern. Damals hat Ehmke für die SPD gegen Helmut Kohl gefordert, die einzige saubere Lösung ist, der Bundeskanzler tritt zurück. Diesen Satz kann man auf die jetzige Situation nur - ich würde sagen - in einem potenzierten Sinne übertragen.

Sagenschneider: Wird es denn für das Bundesverfassungsgericht eine Rolle spielen oder für die Entscheidung auch von Bedeutung sein, dass mittlerweile eigentlich fast alle Parteien Neuwahlen wollen oder in allen Parteien eine überwiegende Mehrheit?

Scholz: Das Bundesverfassungsgericht hat auch diese Frage schon mitbetrachtet und hat gesagt, das ist ein - aber ich unterstreiche das Wörtchen ein - Indiz für die Einschätzung der Gesamtsituation und für den Bundespräsidenten, der ja einen gewissen Ermessensspielraum hat bei seiner Entscheidung, ob er den Bundestag auflöst oder ob er es nicht tut. Es ist ein Indiz, das er mitberücksichtigen kann, aber es ist nicht allein ausschließlich maßgeblich. Denn andernfalls wäre die Situation die - was nicht der Wille der Verfassung ist - dass wenn die Parteien sich einig sind, einen Bundestag aufzulösen, dann beschließen sie das, wie eine Selbstauflösung also - das alleine ist verfassungsrechtlich nicht möglich und genügt demnach auch nicht dem Verfahren nach Artikel 68 Grundgesetz.

Sagenschneider: 1992 bis 1994 hat ja unter Ihrer Leitung die gemeinsame Verfassungskommission getagt. Man hatte damals gesagt, nach der Wiedervereinigung sollten wir alle noch einmal über das Grundgesetz diskutieren, möglicherweise Veränderungen vornehmen. Und dabei hat auch der Artikel 68 eine Rolle gespielt, von dem jetzt so viel die Rede ist. Man hat dann beschlossen, ihn nicht zu verändern. Warum? Denn man könnte ja sagen - und Herr Thierse, der Bundestagspräsident fordert es ja auch - Selbstauflösungsrecht des Parlaments, dann wäre die Sache auch klar und alles viel einfacher.

Scholz: Das ist richtig, nur muss man zunächst sagen, die jetzige Situation sozusagen zu heilen, indem man jetzt im Schnellschuss eine Verfassungsänderung macht, das halte ich nicht für akzeptabel.

Sagenschneider: Aber da muss ich jetzt Herrn Thierse in Schutz nehmen, er meinte langfristig.

Scholz: Dass man langfristig dieses Thema wirklich noch einmal aufrufen muss, der Meinung bin ich auch, vor allem, wenn man eine Selbstauflösung des Bundestages mit einem sehr hohen Quorum verbindet, möglicherweise nicht nur zwei Drittel des Bundestages, sondern vielleicht sogar drei Viertel. Aber die Frage ist in der Tat, wie Sie richtig sagen, damals geprüft worden. Damals hat es zwei Argumente gegeben, die letztlich dazu führten, dass man eine solche Verfassungsänderung nicht gemacht hat. Das eine war, dass damals schon von Seiten der SPD gefordert wurde, gut, machen wir das Selbstauflösungsrecht aber führen wir gleichzeitig Volksabstimmung ein, was das Grundgesetz ja bisher nicht kennt. Das waren Themen, die nichts miteinander zu tun haben. Also, diese Verkopplung war im Grunde nicht rational, um es vorsichtig zu sagen. Und dann gab es durchaus von Seiten des damaligen Bundespräsidenten auch Vorbehalte, der im Grunde auch ziemlich deutlich machte, man solle dem Bundespräsidenten eigentlich nicht so gleichsam die einzige Position, wo er wirklich politische Macht hat, nehmen. Denn das wäre die Konsequenz, dann würde die jetzige Regelung des Artikel 68 einfach überflüssig werden. Man würde dieses komplizierte Verfahren nicht mehr beschreiten, sondern man würde dann eben auf die Selbstauflösung zurückgreifen. Das waren die Argumente damals. Aber beides sind Argumente, die natürlich für sich allein nicht stichhaltig sind. Das heißt, man soll die Frage wieder aufrufen. Da bin ich durchaus dafür.

Sagenschneider: Der Staatsrechtler Rupert Scholz im Gespräch mit DeutschlandRadio Kultur.