Bundesausländerbeirat fordert Abschaffung der Hauptschule

Mehmet Kilic im Gespräch mit Birgit Kolkmann · 09.02.2009
Der Vorsitzende des Bundesausländerbeirats, Mehmet Kilic, hat gefordert, künftig auf die Hauptschule zu verzichten. Alle Kinder in Deutschland sollten mindestens bis zur neunten Klasse gemeinsam lernen, damit sie ihre Fähigkeiten entwickeln könnten, sagte Kilic.
Birgit Kolkmann: Ein Drittel aller Türken und Türkischstämmigen in Deutschland hat keinen Schulabschluss. Nur 14 Prozent schaffen es bis zum Abitur. Dieses Ergebnis der neuesten Integrationsstudie des Berlin Instituts für Bevölkerung und Entwicklung hat die Debatte über die Ursachen wieder neu angefacht. Verweigern sich die Türken in besonderem Maße der Integration und fängt das schon in der Schule an, oder ist es im deutschen Schulsystem besonders schwer für Migranten, sich hochzuarbeiten? Der Witz: Die Türken hätten ja hier schon eine eigene Schule, nämlich die Hauptschule, spricht Bände über unser selektives Schulsystem. Mehmet Kilic ist in der Türkei geboren und kam erst als 22-Jähriger nach Deutschland. Heute ist er aktiver Politiker bei den Grünen, Rechtsanwalt und Vorsitzender des Bundesausländerbeirats, der etwa vier Millionen Ausländerinnen in Deutschland repräsentiert. Schönen guten Morgen, Herr Kilic!

Mehmet Kilic: Guten Morgen, Frau Kolkmann!

Kolkmann: Warum schneiden die Türken so miserabel ab im deutschen Schulsystem, was ist Ihre These?

Kilic: Aus meiner Sicht gibt es zwei Ursachen. Einmal liegt es am Schulsystem, das andere ist dann doch, wir sind selbst Schuld sozusagen, Familie und Wert der Bildung. Erst fange ich mal mit Ihrer Erlaubnis mit dem Schulsystem. Unser Schulsystem, dreigliedrig, sogar viergliedrig, wenn wir von Migranten reden, weil wir auch damalige Sonder- und jetzige Förderschulen dazu zählen müssen, selektiert unsere Kinder zu früh und zu stark. Das benachteiligt insbesondere die Migrantenkinder, weil sie gerade dabei sind, neben ihrer Muttersprache ihre Bildungssprache Deutsch zu festigen. Da wird selektiert, und diese Kinder landen in der Regel in der Hauptschule. Selbst wenn ihre Eltern nicht wissen, was Hauptschule ist, wissen die Kinder schon, dass sie auf dem Abstellgleis gelandet sind. Die verlieren Hoffnung und Perspektive, dann verlieren sie wirklich auch Bildungslust. Zweiter Faktor ist die Familie. In vielen Migrantenfamilien ist Bildung noch nicht Selbstzweck geworden. Und dazu fehlten Perspektiven und dann auch Motivation. Das muss sich aber ändern. Ich gebe immer ein Beispiel, ich sage, wenn meine Tochter Kunstgeschichte studieren möchte, ist es meine Aufgabe als Familienvater oder Familienmutter, sie bis zum bitteren Ende zu unterstützen, wenn …

Kolkmann: Das bittere Ende Kunstgeschichte, ich hoffe, das ist es nicht für Sie.

Kilic: Ob sie später eine Museumsdirektorin oder nicht, das ist zweitrangige Frage.

Kolkmann: Kommen wir mal auf Ihre eigene persönliche Erfahrung zurück. Sie sind ja in Deutschland gar nicht selbst zur Schule gegangen. Würden Sie sagen, das war Ihr Glück?

Kilic: Ja, auf jeden Fall. Also ich habe das oft gesagt, wenn ich in Deutschland zur Schule gehen würde, weiß ich nicht, ob ich die Hauptschule schon geschafft hätte. Ich wäre wahrscheinlich schon längst frustriert und dann irgendwo anders meine Karriere gemacht. Ich hoffe, dass ich keine kriminelle Karriere gemacht hätte. Wir haben in unserer Anwaltskanzlei viele Jugendliche zu vertreten, die von der Abschiebung bedroht sind. Ich muss ja ein Gesamtbild von denen abgeben. Wenn ich deren Schulzeugnisse von der ersten und zweiten Klasse sehe, so liebevoll geschrieben, ich frage mich, wie diese Engel zum Teufel geworden sind. Und da liegt wirklich eine Ursache. Die werden erst ausgegrenzt aufgrund deren Sprachdefizite, und dann spielen sie erst Kasper, und sobald sie dann in der Pubertät sind, lassen sie Fäuste spielen. Und dann irgendwann machen sie eine kriminelle Karriere, wenn sie in den falschen Freundeskreis geraten.

Kolkmann: Sie sagen, sie werden ausgegrenzt, aber vielleicht grenzen sie sich ja auch selber aus, weil sie eben bestimmte Regeln nicht akzeptieren?

Kilic: Man kann natürlich Kant zitieren und sagen, selbst verschuldete Unmündigkeit. Das trifft es nur zum Teil. Aber es gibt auch Schulen, diese Kinder bewusst selektiert werden, und man schickt sie in die Hauptschule, damit sie unsere Kinder nicht stören. Es gibt so eine Selektion, in meiner eigenen Stadt auch.

Kolkmann: Das Wort Selektion ist in diesem Zusammenhang schon fast ein bisschen despektierlich. Es gibt ja auch genug junge Türken, auch solche mit deutschem Pass, die es in der Schule schaffen und auch in der Uni und im Berufsleben. Woran liegt denn das?

Kilic: Auf jeden Fall, auch meine Schwägerin hat es von Sonderschule, über Hauptschule, über Werksrealschule und dann eine Fachhochschule geschafft, und jetzt arbeitet sie bei Siemens. Aber die sind die Ausnahmen. Die sind Ausnahmen, aber einer Riesenmasse werden die Flügel abgeschnitten und deren Mut weggenommen. Ich rede von diesen Jugendlichen, die unverdient in der Hauptschule landen. Deshalb meine ich, dass wir diese Hauptschulen abschaffen sollten, und die Kinder sollten mindestens bis zur neunten Klasse gemeinsam lernen, damit sie ihre Fähigkeiten entwickeln und beweisen können.

Kolkmann: Sie sprechen davon, dass den Kindern die Flügel abgeschnitten werden. Es gibt aber andere Migrantengruppen, andere Nationalitäten, die sich völlig anders integrieren und in der Schule auch sehr, sehr viele erfolgreicher sind, ergo dann auch im Berufsleben und in der allgemeinen Integration. Sie haben auch Teilhabe am Wohlstand, und das ist ja wohl das Ziel vieler. Warum klappt das bei den Türken so schlecht? Sie sprachen das am Anfang schon an, die Familien haben den Integrationswillen auch nicht, oder?

Kilic: Ja, auf jeden Fall. Und schauen Sie mal, bei Spaniern ist es anders, und bei Spaniern haben die Eltern sehr frühzeitig diese Vereine, Elternvereine gegründet und erfolgreich an der Bildung ihrer Kinder auch systematisch organisiert mitgearbeitet. Das ist wichtig, wenn bei Griechen Bildung Selbstzweck ist, das funktioniert. Deshalb muss auch bei türkischen Familien Bildung Selbstzweck werden, und die Eltern müssen auf jeden Fall mehr an der Bildung ihrer Kinder mitarbeiten. Es ist auch keine Entschuldigung, wenn die Eltern sagen, ich habe aber kein hohes Bildungsniveau. Selbst Analphabeten können ihre Kindern fördern.

Wenn wir unsere Kinder motivieren, wenn wir uns interessieren für die Bildung unserer Kinder, wenn wir nachfragen und mitarbeiten, dann werden die Kinder motiviert sein, und sie werden auf jeden Fall auch mehr schaffen. Davon bin ich überzeugt. Ich sage den Eltern, wenn Sie ein Wunder erwirken wollen, tun Sie so, als ob Sie eine Stunde am Tag ein Buch lesen würden. Sie müssen nicht lesen, wenn Sie nicht wollen, aber nehmen Sie es in die Hand. Dann werden Sie sehen, was für ein Wunder geschieht. Und da sind sie in Bringschuld. Wir müssen uns besser organisieren, wir müssen mehr Interesse an der Bildung unserer Kinder zeigen. Wir sollten, wir dürften den Horizont unserer Kinder nicht frühzeitig eingrenzen.

Kolkmann: Plädoyer für mehr Bildung von Mehmet Kilic. Er ist Vorsitzender des Bundesausländerbeirats. Vielen Dank für das Gespräch im Deutschlandradio Kultur!

Kilic: Danke Ihnen, Frau Kolkmann!