Bulgarische und rumänische Flüchtlinge zieht es nach Neukölln

Moderation: André Hatting · 21.08.2013
Franziska Giffey (SPD), Schulstadträtin in Berlin-Neukölln, rechnet mit einem weiteren Zuzug von Armutsflüchtlingen aus Bulgarien und Rumänien. Die etwa 15 bis 20 Kinder, die so jeden Monat nach Neukölln kommen, stellten unter anderem die Schulen vor große Probleme. "Der Trend geht stetig nach oben. Ich glaube nicht, dass wir schon einen Höhepunkt erreicht haben."
André Hatting: Schlafplatz für 200 Euro, und wenn man Glück hat, sogar auf einer Matratze, in einem Raum mit 20 anderen Menschen. Arbeitslohn vier Euro die Stunde, und wenn man Glück hat, wird der auch ausgezahlt – Alltag bulgarischer und rumänischer Armutsflüchtlinge in Deutschland. Und trotzdem sagen sie sich, das ist immer noch besser als die Situation zu Hause. Jede Woche kommen ganze Busladungen nach Deutschland, nach Berlin-Neukölln zum Beispiel ist bereits ein Drittel eines gesamten Dorfes nördlich von Bukarest umgezogen, natürlich auch viele Kinder. So viele, dass sie jeden Monat eine neue Schulklasse füllen würden. Das stellt die Bezirksverwaltung vor unglaubliche Probleme, wie man sich denken kann. Franziska Giffey ist als Stadträtin in Berlin-Neukölln unter anderem für die Bereiche Bildung und Schule zuständig, und die SPD-Politikerin hat sich gesagt, ich will mir mal die Lage der Menschen vor Ort angucken, ich will verstehen, was die Menschen da eigentlich fortreibt. Sie ist mit einer offiziellen Delegation nach Rumänien gereist – guten Morgen, Frau Giffey!

Franziska Giffey: Guten Morgen!

Hatting: Und, waren Sie geschockt?

Giffey: Also durch die Situation bei uns vor Ort ist man natürlich vorbereitet, wir haben erfahren das, was wir auch hier erleben, letztendlich die Antwort darauf: Die Kinder haben nur teilweise begrenzt Zugang zur schulischen Bildung, sie werden weniger vorbereitet auf einen Schulbesuch, und es ist ganz klar so, dass es bei der Ethnie der Roma eben eine Diskriminierung auch gibt. Aber natürlich auch –das haben wir auch erfahren –, dass eben vielfach auch aus der Community selbst nicht der Sinn in Bildung gesehen wird, weil man sich davon keine Zukunftsperspektive verspricht. Wir haben erfahren, dass eben der Zugang für Menschen mit Romahintergrund zum Arbeitsmarkt beispielsweise sehr, sehr schwierig ist, dass eigentlich nur eine Stelle im ganz gering bezahlten Sektor möglich ist, und das heißt in Rumänien 150 Euro Monatsverdienst. Ein normaler Lehrer, ein Arzt verdient auch nur um die 200, 300 Euro, und insofern ist es eine wirtschaftliche Lage, die die Menschen natürlich auch wegtreibt und sie dazu bringt, auf der Suche nach einem besseren Leben dann eben auch nach Deutschland, nach Berlin zu kommen.

Hatting: Welche Konsequenzen, Frau Giffey, können Sie aus diesen Erfahrungen, die Sie in Rumänien gesammelt haben, jetzt für Ihre Arbeit in Berlin-Neukölln ziehen?

Giffey: Na, für uns war ja eine ganz wichtige Frage, was kommt noch auf uns zu. Wir können das ja nur sehr schwer einschätzen, wir sehen, dass jeden Monat in der Größenordnung von 15 bis 20, manchmal mehr Kinder alleine aus diesen beiden Ländern zu uns kommen. Das ist eine absolute Spitzenzahl verglichen mit anderen Ländern, Syrien, Irak oder auch andere westeuropäische Länder. Und die Frage, die uns umtrieb, ist ja, was schätzen die Nichtregierungsorganisationen, auch die Regierungsbehörden vor Ort ein: Wird das weitergehen, sind wir schon an einem Höhepunkt oder wird das noch mehr, wenn Anfang 2014 die Beschränkung für die Arbeitnehmerfreizügigkeit fällt.

Und wir haben sehr unterschiedliche Antworten bekommen, einige sagen, die, die weggehen wollten, sind schon hier, andere sagen, es wird noch mehr werden. Aus der Einschätzung hier im Bezirk, was wir erleben, können wir sagen, der Trend geht stetig nach oben. Ich glaube nicht, dass wir schon einen Höhepunkt erreicht haben, wir müssen uns - und das war ganz oft die Aussage - die wir auch vor Ort gehört haben, darauf einstellen, dass weitere kommen. Am klassischsten hat das eigentlich der Priester vor Ort in Fântânele ausgedrückt. Er sagte: Richten Sie schon mal weitere Klassen ein, es werden weitere kommen. Und der Traum von Deutschland und von dem besseren Leben, der ist absolut präsent, gerade bei den Familien mit vielen Kindern, die sich eine bessere Bildung erhoffen für ihre Kinder, und einfach ein besseres Leben.

Und insofern ist das eine Herausforderung nicht nur für die Schule, sondern auch für den Gesundheitsbereich, für den Wohnbereich. Wir haben enorm zu tun mit auch dem gesundheitlichen Status der Kinder, mit dem Impfstatus. Wir haben jetzt angefangen mit Impfungen in der Schule, um die Kinder auf ein adäquates Niveau zu bringen, dass sie eben auch diesen Impfschutz haben, aber die Wohnsituation vor Ort, die wird hier auch schwieriger werden, denn es ist noch nicht genügend Wohnraum da.

Hatting: Und genau auf diese Probleme hat ja Anfang des Jahres der Deutsche Städtetag mit einem Brandbrief hingewiesen, er hat vor einer Überforderung der Kommunen gewarnt. Das ist nun ein paar Monate her – ist denn irgendwas an Hilfe, irgendwas an Veränderung bei Ihnen jetzt angekommen, hat sich irgendwas geändert seitdem?

Giffey: In Berlin gibt es ja immerhin eine Wahrnehmungsveränderung, vor drei Jahren, als wir dann merkten, dass das so stark zunimmt, da war die ursprüngliche Reaktion von Landesseite eher so, da müsse der Bezirk mit den vorhandenen Ressourcen flexibel umgehen. Inzwischen hat sich das verändert, also man sagt, okay, es ist eine Landesaufgabe, es ist ja ein Aktionsplan auch erarbeitet worden, damit umzugehen, dieser Aktionsplan ist aber nur sehr gering finanziell untersetzt.

Und ich wünsche mir einfach, dass diese große Aufgabe auch, dass die Menschen einfach hier sind, dass wir sie nicht einfach wieder wegschicken können, es sind ja europäische Unionsbürger, dass das angenommen wird, wenn …

"Die Wahrnehmung des Problems als gesamtpolitische Aufgabe"
Hatting: Also Frau Giffey, wenn ich Sie da kurz unterbrechen darf: Das heißt also, das, was der Bundesinnenminister dazu gesagt hat – dem ist nämlich eingefallen, dass man die Menschen ja einfach wieder abschieben könne –, dem stimmen Sie nicht zu?

Giffey: Das ist nicht so einfach, das europäische Freizügigkeitsrecht ist ganz hoch angesiedelt, und dabei wird negiert, dass wir europäische Unionsbürger haben, die ganz normal ihr Recht auf Freizügigkeit wahrnehmen, und damit muss man erst mal umgehen, auch vor Ort, da sehen wir es als erstes, aber erst recht auf den anderen Ebenen, Bund, Land und europäische Ebene.

Hatting: Wäre es denn ein richtiger Ansatz zum Beispiel, gegen die massenhafte Pseudoselbstständigkeit vorzugehen? Im Augenblick läuft es ja so, dass viele Schleuser in Berlin empfehlen, also den Armutsflüchtlingen empfehlen, hier ein Gewerbe anzumelden, denn dann bekommen sie Kindergeld. Aber das Gewerbe besteht dann in Flugblätterverteilen oder Ähnlichem.

Giffey: Ja, wir haben in Neukölln über 3.000 rumänische und bulgarische Unternehmen, so viele Gewerbeanzeigen haben wir inzwischen. Das ist so, dass das einem im Moment noch empfohlen wird sozusagen, um den dauerhaften Aufenthaltsstatus zu bekommen. Diese Notwendigkeit, um länger als drei Monate hierbleiben zu können, ein Gewerbe anzumelden, die wird ja wegfallen in dem Moment, wo Anfang 2014 die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit gewährt ist. Dann brauchen Sie kein Gewerbe mehr anmelden, und dann, denke ich, wird diese Option auch nicht mehr so oft gezogen werden, weil die Leute dann einfach so im Wege ihrer Arbeitnehmerfreizügigkeit herkommen können.

Hatting: Sie haben das vorhin schon angesprochen, dass Sie denken, dass die Europäische Union und auch der Bund in Deutschland zuständig ist, oder zumindest am Zuge sei. Was erwarten Sie konkret?

Giffey: Es geht konkret darum, dass die Städte und Gemeinden mit dieser Aufgabe nicht alleine gelassen werden.

Hatting: Geht es nur um Geld?

Giffey: Es geht erst mal auch um die Wahrnehmung des Problems als gesamtpolitische Aufgabe, nicht nur eine lokale Sicht der Dinge, aber es ist …

Hatting: Was heißt das konkret?

Giffey: Das heißt konkret, wir haben ja inzwischen Willkommensklassen in den Schulen, wo wir zusätzliche Lehrer bekommen, die mit den Kindern arbeiten. Wir brauchen eigentlich noch viel mehr Sprach- und Kulturbildung, vor allen Dingen Sprachbildung auch für die Eltern, Alphabetisierung, aber auch Beratung, was die ganze Ausbeuterschiene betrifft, die hier gefahren wird. Es gibt eben Leute, die machen mit der Not dieser Menschen Geld, mit Schrottimmobilien, mit ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen, und das liegt vor allen Dingen daran, dass Menschen nicht wissen, wie eigentlich Deutschland funktioniert. Wir hatten den Fall, dass für einen Kindergeldantrag 5000 Euro Gebühr verlangt worden sind, und dann noch der Mutter erzählt wurde, dass sie ihr Kind, so lange sie das nicht zahlt, nicht in die Schule schicken darf. ´

Hier ist Aufklärungsarbeit natürlich notwendig, und dazu brauchen Sie Menschen aus der Community, die auch die Sprache können und das vermitteln können, damit dieses Leben, diese Integration hier, halbwegs funktionieren kann. Das Wegschauen und Hoffen, dass sich das Problem von alleine löst, wird nicht zielführend sein.

Hatting: Franziska Giffey, die SPD-Politikerin ist Stadträtin von Berlin-Neukölln. Vielen Dank für das Gespräch, Frau Giffey!

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