Bürgerrechtlerin Ulrike Poppe

"Linker Ministerpräsident noch nicht selbstverständlich"

Ulrike Poppe bei einer Pressekonferenz in ihrer Funktion als Beauftragte des Landes Brandenburg zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur (3. September 2014)
Ulrike Poppe bei einer Pressekonferenz in ihrer Funktion als Beauftragte des Landes Brandenburg zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur. © picture alliance / dpa / Ralf Hirschberger
Moderation: André Zantow · 01.11.2014
Auch 25 Jahre nach dem Mauerfall hält die ehemalige DDR-Oppositionelle Ulrike Poppe einen Ministerpräsidenten der Linkspartei für keine Selbstverständlichkeit. Sie bedauert die Entscheidung der Thüringer SPD-Spitze für Rot-Rot-Grün.
Deutschlandradio Kultur: Tacheles ist heute zu Gast in Potsdam bei einer Frau, die 1983 einsaß in der zentralen Stasi-Haftanstalt der DDR Berlin-Hohenschönhausen - Ulrike Poppe, Bürgerrechtlerin, damals gerade mal 30 Jahre alt. Welches Verbrechen haben Sie denn begangen 1983, für das Sie ins Gefängnis mussten?
Ulrike Poppe: Das war der Paragraph 99, Landesverrat, der unter Strafe stellte, wer nicht geheime Nachrichten an einen Vertreter einer fremden Macht weitergibt. Und diese Nachrichten müssen geeignet sein, dem Ansehen der DDR zu schaden.
Deutschlandradio Kultur: Welche Nachricht war das?
Poppe: Dabei handelte es sich um einen Abend, den vier Frauen aus der Gruppe "Frauen für den Frieden" zusammen mit einer Neuseeländerin, die aber in Großbritannien wohnte, verbrachten. Diese Frau hat für die Universität eine Studie verfasst über die Situation der Frauen in der DDR. Und wir saßen einen Abend lang zusammen, tranken Schnaps und unterhielten uns, wie es uns so geht als Frauen in der DDR. Das war wirklich eher harmlos und es war auch nur ein Vorwand. Es war ein Vorwand für die Stasi, eben uns zu verhaften, weil wir als Frauengruppe doch in den politischen Fokus geraten waren.
Deutschlandradio Kultur: Sie waren sechs Wochen in Haft. Dann gab's viel Protest. Auch aufgrund dessen wurden Sie dann frei gelassen. Wie haben Sie dann Ihre Rückkehr erlebt? Ein Studium, das Sie sich vorgestellt hatten, dass Sie sich gewünscht hatten, war dann nicht mehr möglich, weil dieser Haftaufenthalt in Ihrer Biographie stand. – War das der endgültige Bruch mit dem System DDR?
Poppe: Ich denke, der Bruch lag schon davor. Also, Anfang der 80er-Jahre war ich doch schon ganz schön tief drin. Ich hatte schon mehrere Festnahmen hinter mir.
Deutschlandradio Kultur: 13 an der Zahl.
"Es war eine Entscheidung von ganz oben, uns wieder herauszulassen"
Poppe: Ja, ich habe mal gezählt. Es sind ungefähr 13 wohl gewesen. Aber das war dann diesmal Ende 83 eine richtige Verhaftung, also mit Vorführung vor den Haftrichtern und eben unter Anordnung der Untersuchungshaft.
Wenn es einen Prozess gegeben hätte, wäre ein Strafmaß nicht unter zwei Jahren herausgekommen. Aber, Sie haben das schon erwähnt, es gab massive Proteste in der Bundesrepublik, in anderen Ländern. Friedensorganisationen, mit denen wir Kontakt hatten, haben sich für uns eingesetzt, aber auch Persönlichkeiten wie Petra Kelly und Gerd Bastian. Die haben wiederum Olof Palme angesprochen, Willy Brandt. Und da gab's dann also auch auf den diplomatischen Kanälen entsprechende Interventionen, so dass es tatsächlich eine Entscheidung von ganz oben war, uns wieder herauszulassen.
Aber Sie haben völlig Recht. Der Studienplatz, der für mich eigentlich vorgesehen war, der ist dann wieder gestrichen worden. Und da wurde mir dann also auch sehr deutlich gesagt: Sie können hier nicht mehr studieren.
Ulrike Poppe bei einem gemeinsamen Auftritt mit Bundespräsident Joachim Gauck im Juni 2014.
Ulrike Poppe bei einem gemeinsamen Auftritt mit Bundespräsident Joachim Gauck im Juni 2014.© AFP PHOTO / JOHN MACDOUGALL
Deutschlandradio Kultur: Sie sind somit ohne Ausbildung geblieben. Selbst ein Opfer der DDR-Diktatur, Ulrike Poppe, heute fast 25 Jahre nach dem Mauerfall helfen Sie den Opfern. Sie sind seit vier Jahren die Beauftragte des Landes Brandenburg zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur. Welche Arbeit leisten Sie hier und was ist Ihnen dabei wichtig?
Poppe: Also, einmal die Opferberatung, also diejenigen, die einen Anspruch haben auf Haftentschädigung, auf Opferpension, auf bestimmte Leistungen, die ihnen aufgrund der Benachteiligungen zustehen, Rehabilitierung nicht zu vergessen, denen helfen wir, diese Ansprüche durchzusetzen.
Aber nicht nur das, ich nenne mich "Aufarbeitungsbeauftragte", weil ich auch mit politisch-historischer Aufklärung zu tun habe. Wir machen Veranstaltungen, geben Publikationen heraus, machen Lehrerfortbildungen, Schülerworkshops. Also, wir sind viel im Land unterwegs und versuchen das Gespräch über die Vergangenheit, soweit gewünscht, zu fördern.
"Die DDR war eine Diktatur"
Deutschlandradio Kultur: Sie sprechen auch mit Schülern. Wie bringen Sie den Schülern die DDR näher? Nutzen Sie da zum Beispiel auch den Begriff "Unrechtsstaat"?
Poppe: Ich benutze den Begriff nicht, habe aber auch nichts dagegen, dass er benutzt wird, wenn denn darunter verstanden wird, dass die DDR ein Staat war, in dem systembedingtes Unrecht geschehen ist, schlimmes Unrecht, schweres Unrecht, das man benennen muss und das nicht auf das Versagen Einzelner zurückzuführen war, sondern das im System angelegt war. Die DDR war eine Diktatur. Und um der Machterhaltung willen hat sich die Politik, wenn es um vermeintliche oder wirkliche Gefährdung von Machtstellungen ging, auch über das geltende Recht hinweggesetzt. Und das charakterisiert einen Staat, der alles andere als ein Rechtsstaat war, also kein Rechtsstaat.
Deutschlandradio Kultur: Warum diese Gemeinsamkeit von Ihnen als Bürgerrechtlerin, die diesen Begriff nicht nutzt, genauso wie einige Politiker der Linken, warum hält man von diesem Begriff eher Abstand?
Poppe: Das ist überhaupt keine Gemeinsamkeit. Anders als Vertreter der Linken lehne ich diesen Begriff ja nicht ab. Ich benutze ihn deshalb nicht, weil er für mich nicht ganz eindeutig ist. Es ist kein Terminus wie Rechtsstaat. Da weiß man, was das ist. Die Politik setzt sich über das Recht hinweg. Aber Unrechtsstaat, da versteht jeder was anderes darunter.
Ich habe gerade einen Artikel von Friedrich Schorlemmer gelesen. Er versteht darunter, dass es in der ganzen DDR nur ausschließlich Unrecht gab. Das kann man natürlich so nicht sagen. Natürlich gab es - und er argumentiert ja auch damit - eine Straßenverkehrsordnung und es gab ein Jugendschutzgesetz. Und man hatte auch Freiräume und so. Er verwechselt den Staat mit dem gesamten gesellschaftlichen Leben in der DDR. Ich mache da eine Unterscheidung. Deshalb ist für mich dieser Begriff kein Totschlagargument und kein Kampfbegriff, der sozusagen jegliches individuelle Leben in der DDR diskreditiert.
Natürlich gab es ein normales Leben auch in der DDR. Und natürlich gab es hervorragende Leistungen in der DDR. Und natürlich müssen wir nicht alles entwerten, was Menschen in dieser DDR geschaffen haben. Und es ist Hervorragendes geschaffen worden. Da kann man sich ja nur die Literatur angucken, die Bildende Kunst, die Musik usw. - Das ist überhaupt nicht die Frage.
Aber der Staat als solcher, der die Gewaltenteilung abgelehnt hat, der jede Form von bürgerlicher Demokratie und jede Liberalität abgelehnt hat, sondern der einzig fixiert war auf seine eigene Machterhaltung, der die Wahlen fälschte und der jeden Kritiker verstummen ließ, das ist viel zu schwach ausgedrückt, der jeden Kritiker bekämpfte und bestrafte, der Staat war natürlich ein Staat, den man als Unrechtsstaat bezeichnen kann, aber nicht die DDR.
"Jeder in der DDR war gezwungen, Kompromisse einzugehen"
Deutschlandradio Kultur: Dazu passt ein Satz aus einem anderen Interview, den Sie mal gesagt haben. Sie haben gesagt: "DDR, das sind wir alle." DDR, das schließt auch ein Mauertote ein, das schließt Stasi ein, Wahlbetrug, aber auch Opposition, Weihnachtsfeiern, Kinder großziehen etc. Ist das Problem, dass man versucht, die DDR auf eine Überschrift zu bringen?
Poppe: Ja, ich glaube, das ist der große Irrtum oder das große Missverständnis. Es gab in der DDR, da erinnere ich mich noch gut, ein Plakat, auf dem ganz viele Gesicherter drauf waren. Und darunter stand: "Der Staat, das sind wir." Ich war total wütend über dieses Plakat, weil für mich immer der Staat "die" waren. Und das war, sozusagen ich war ein Staatsfeind. Und das waren viele mehr oder weniger und mehr oder weniger als solche aktiv.
Aber ich war kein Feind der DDR, weil die DDR eben mehr war als dieses System, dieses politische System und mehr war als der Staat, sondern die DDR war eben auch der Widerstand, auch die Menschen, die versucht haben, trotz System ein anderes ordentliches Leben zu führen, sich Freiräume zu schaffen.
Und auf der einen Seite gab es nicht viele, die bekennende Staatsfeinde waren, die sich zur Opposition bekannten und nach außen hin auch deutlich machten, dass sie das System ändern wollten, aber noch viel mehr gab es die versucht haben ein Leben zu leben, mit welchem sie sich nicht für das System verfügbar machten und nur notwendige Kompromisse eingingen. Im Übrigen möchte ich sagen, dass alle, jeder, der in der DDR lebte, auch gezwungen war, mehr oder weniger Kompromisse eingehen zu müssen. Wenn man eine Wohnung haben wollte, wenn man Kinder hatte, natürlich sind wir, auch diejenigen, die in der Opposition waren, Kompromisse eingegangen.
Bei mir war es eben so: Von dem Moment an, wo ich wusste, ich kann keine Ausbildung mehr machen, der Zug ist weg, ich bin einfach mit diesem Stigma behaftet, eben Staatsfeind zu sein, war ich auch relativ frei, weil ich ja nichts mehr zu verlieren hatte.
"Die Menschen schrien mit Sektflaschen in der Hand"
Deutschlandradio Kultur: Fehlt diese Perspektive in der Aufarbeitung, in der Sicht auf die DDR heute?
Poppe: Ich merke immer wieder, wenn ich hier mit Menschen diskutiere, hier in Brandenburg, dass sich manche durch diese Kritik am System in der DDR in ihrem eigenen Leben entwertet fühlen. Und ich versuche immer wieder klarzumachen, dass das System auf der einen Seite nicht dasselbe ist wie ihr Leben auf der anderen Seite.
Und meines Erachtens gibt es ein richtiges Leben im falschen und viele haben ein richtiges Leben geführt.
Deutschlandradio Kultur: Der Mauerfall jährt sich am kommenden Wochenende zum 25. Mal. Frau Poppe, Sie waren damals in dieser besonderen Nacht am Brandenburger Tor. Für alle, die dieses Glück hatten, wenn Sie jetzt nochmal die Augen zumachen und an diese Nacht denken, was sehen Sie?
Poppe: Ich sehe Menschen, die außer sich waren vor Freude und "Wahnsinn" riefen oder "wer jetzt schläft, ist tot", erinnere ich mich noch. Bei manchen guckte das Nachthemd noch unter dem Mantel hervor. Viele ergriffen die Chance, um sich auf die Mauer hochziehen zu lassen. Die ist ja ziemlich hoch am Brandenburger Tor.
Nach der Öffnung der Grenzen der DDR zur BRD und Westberlin am 9. November 1989 werden überall auch provisorische Übergangsstellen eingerichtet. Auch in der Ebertstraße strömen Tausende nach erfolgtem Mauerdurchbruch in den Westen.
Nach der Öffnung der Grenzen der DDR zur BRD und Westberlin am 9. November 1989 strömen Tausende nach erfolgtem Mauerdurchbruch in den Westen.© picture alliance / ZB / Bernd Settnik
Deutschlandradio Kultur: Waren Sie auch oben?
Poppe: Ich war auch oben und ich bin auch auf der anderen Seite herunter gesprungen und dann nach Westberlin reingelaufen. Die Straße des 17. Juni ist ja lang. Irgendwann hat uns dann ein Auto mitgenommen und zum Kudamm gefahren. Dort lag der ganze Verkehr still und die Menschen schrien mit Sektflaschen in der Hand und lagen sich in den Armen. Die Kneipen und Clubs waren die ganze Nacht über offen und es gab Getränke, die man nicht bezahlen musste. Und ich saß bis zum frühen Morgen in irgendwelchen Bars herum.
Irgendwann bekam ich dann einen Schreck. Ich musste ja wieder zurück und stellte fest, dass ich meinen Personalausweis nicht mit hatte. Und dann hab ich ein bisschen Sorge gehabt, dass ich nicht einfach wieder in die DDR zurückgelassen werde. Aber das ging ohne Problem.
"Es mussten natürlich auch die Richter ausgetauscht werden"
Deutschlandradio Kultur: Die folgenden Monate waren dann auch geprägt von viel Arbeit. Sie waren bei "Demokratie Jetzt" in der Bürgerbewegung aktiv, haben da unter anderem den Runden Tisch mit ins Leben gerufen. – Welche Ziele, welche Hoffnungen gab es denn an diesem Tisch? Was waren da die Gedanken, die man erträumt hat?
Poppe: Also, inhaltlich war das Ziel, eine Demokratie auf den Weg zu bringen. Und die Voraussetzung dafür waren eben die freien Wahlen. Und die Frage der deutschen Wiedervereinigung war von den meisten am Runden Tisch bejaht worden, aber das stand zu der Zeit noch nicht zur Debatte, obwohl dann Anfang 1990 fast jedem klar war, dass das darauf zu läuft. Aber wohlgemerkt, zunächst war es wichtig, eine demokratische DDR zu schaffen, einen Rechtsstaat.
Ach so, das habe ich noch vergessen: Es mussten natürlich auch die Richter ausgetauscht werden, also erhebliche Veränderungen im ganzen Justizapparat fanden statt, so dass tatsächlich erstmal Demokratie und Rechtsstaat im Vordergrund standen, um dann sozusagen als nächsten Schritt die Modalitäten der Wiedervereinigung zu überlegen.
Deutschlandradio Kultur: Demokratie, Rechtsstaat, Sie haben sich auch informiert über die Wirtschaft. Was wäre, wenn es denn eine sehr schnelle Wiedervereinigung geben würde, mit den Betrieben in der DDR? Das sah nicht so gut aus, wenn es diese schnelle Wiedervereinigung gibt. Deswegen haben Sie auch gesagt, wir brauchen einen längeren Transformationsprozess, eher ein paar Jahre statt ein paar Monaten.
Die Menschen haben dann bei der Wahl etwas anders entschieden und mehrheitlich die CDU gewählt, sich für die schnelle Wiedervereinigung entschieden. – War das auch ein Schlag ins Gesicht für Sie, für Ihre Arbeit sowohl in der Opposition als auch dann am Runden Tisch?
Poppe: Ja, ich war bei "Demokratie Jetzt", saß für diese Bürgerbewegung am Runden Tisch und war dort auch im Sprecherrat. Und wir, wie auch das Neue Forum und die Initiative Frieden und Menschenrechte, wir traten ja auch zusammen zu den Wahlen an, wir waren der Meinung, dass eine sehr schnelle Wiedervereinigung, also in Form eines Anschlusses, auch die Konsequenz haben würde, dass noch rentable DDR-Betriebe zu schnell bankrott gehen, was soziale Folgen haben würde, von denen wir uns in Deutschland lange Zeit nicht erholen könnten.
"Heute sehe ich das auch ein bisschen anders"
Das war übrigens eine Diagnose vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, mit denen wir Verbindung hatten und von denen wir uns beraten ließen, weil wir selbst auch nicht in der Lage waren, da so eine Prognose zu erstellen. Aber die haben wir uns zu Eigen gemacht und das haben wir dann auch im Wahlkampf vertreten. Wir haben gesagt: Wir verstehen, dass ihr euch nach schneller Wiedervereinigung sehnt, aber es ist wichtig, erstmal eine stabile DDR zu haben, um dann miteinander, auf Augenhöhe mit den Bundesdeutschen ins Gespräch zu kommen. Und wir sollten nichts überstürzt machen.
Also, heute sehe ich das auch ein bisschen anders, weil, der Strom der Wanderer von Ost nach West hielt an. Die DDR drohte weiter auszubluten. Und das andere war die unsichere Lage mit den ehemaligen Alliierten. Niemand wusste, wie lange Gorbatschow noch am Ruder bleibt, wie lange noch die Franzosen und die Briten so freundlich zustimmend sein werden. Also, dass die völkerrechtliche Seite dann ziemlich schnell unter Dach und Fach gebracht werden musste, das mag ein wirklich wichtiges Argument gewesen sein.
Ulrike Poppe im März 1994.
Ulrike Poppe im März 1994.© picture alliance/ZB/Klaus Franke
Ich weiß nicht, ob man sich vielleicht mit ein paar anderen Anpassungen noch hätte mehr Zeit nehmen sollen. Wir bekamen die Quittung, wie die SPD übrigens auch, aber wir noch mehr: Die Bürgerbewegung erhielt bei den freien Wahlen 2,9 Prozent. Aber ich muss dazu sagen: Das war für mich kein Schlag ins Gesicht. Ich wusste, dass wir nicht diejenigen sind, denen man politische Kompetenz zutraute in der großen Breite.
Und ich erinnere mich an die Aussagen eines Taxifahrers, der sagte: Ihr seid mir ja sympathisch, aber ick will die, wo det Jeld liegt, det Kapital. Und det is die CDU. Die haben Erfahrung mit der Wirtschaft und die haben die besten Connections. - Das habe ich auch verstanden. Denn immerhin, man muss sich vergegenwärtigen, kurz vor den Wahlen kamen die ganzen Horrormeldungen, Teltschik mit seiner Meldung, die DDR ist zahlungsunfähig, ein Horror nach dem anderen, die Situation der Gewässer, der Böden, alles vergiftet, also, eine starke Verunsicherung. Und die Mehrheit der Bevölkerung wollte doch endlich wieder gesicherte Bahnen.
Ich fand das überhaupt nicht schlimm. Erstens hab ich damit gerechnet, also, es war keine Enttäuschung. Und zweitens war für mich wichtig, dass es erstmals möglich war, dass das Volk frei wählen darf. Und das war für mich ein Riesenerfolg.
Deutschlandradio Kultur: Wenn Sie jetzt zurückblicken auf die deutsch-deutsche Geschichte seit 1990, was ist übrig geblieben von der Bürgerbewegung von damals aus der DDR?
Poppe: Was ist übrig geblieben? Tja, zunächst war der Anteil der während der Revolution Aktiven in politischen Funktionen relativ hoch, zehn Prozent ist mal in einer Studie Anfang der 90er-Jahre errechnet worden, allerdings mehr auf unteren kommunalen Ebenen, als Bürgermeister, Stadtrat usw. als in oberen Ebenen. Aber das ebbte sehr schnell ab. Und ich kann das auch gut verstehen, dass manche, die sich aus einer Verantwortung heraus für kurze zeitlang mal in die politische Verantwortung begeben haben, dass die auch wieder zurück in den Beruf wollten beispielsweise oder nochmal anfangen wollten zu studieren, irgendwas nachzuholen, sich zu verändern, also irgendwie doch einen anderen Weg einschlugen.
Übrig geblieben ist die Erfahrung, was ein Leben ohne Freiheiten bedeutet, die Erfahrung von Diktatur und von Widerstand gegen Diktatur, die Erfahrung, dass Freiheit nichts Selbstverständliches ist, dass sie errungen werden muss und dass es auch, um sie festzuhalten, immer wieder der Anstrengung bedarf.
"Ich bedaure das seitens der SPD und der Grünen"
Deutschlandradio Kultur: Freiheit ist nichts Selbstverständliches. Wenn wir jetzt auf die Gegenwart blicken nach Thüringen, Rot-Rot-Grün ist dort auf dem Weg, der erste Ministerpräsident der Linkspartei. Sollte es heutzutage auch selbstverständlich sein, dass ein Ministerpräsident auch aus der Links-Partei kommen kann? Oder haben Sie da immer noch Bauchschmerzen?
Poppe: Für mich ist es noch nicht selbstverständlich - selbstverständlich sowieso nicht. Ich bedaure das auch, diese Entscheidung, sowohl seitens der SPD als auch seitens der Grünen, dass sie sich darauf eingelassen haben. Aber man wird sehen.
Wir haben hier in Brandenburg ja so schlechte Erfahrungen nicht gemacht. Also, jedenfalls jetzt mal aus meinem eigenen Blickwinkel, nämlich dem einer Aufarbeitungsbeauftragten, kann ich sagen, dass das Land in der rot-roten Legislaturperiode mehr gemacht hat im Hinblick auf die Aufarbeitung als zu Zeiten anderer Koalitionen. Deshalb bin ich jetzt nicht so pessimistisch, dass das einen Rollback bedeutet und sozusagen ein schwerer Schlag gegen die Opfer der SED-Diktatur sein muss. Das wird man sehen, wie sich das entwickelt und wie offen und wie glaubwürdig sich die Linke auch gegenüber denen verhält, die unter DDR-Verhältnissen gelitten haben und die eine ehrliche und offene Aufarbeitung fordern.
Deutschlandradio Kultur: Wem nehmen Sie das mehr übel, der SPD oder den Bündnisgrünen, die Zusammenarbeit jetzt mit der Linkspartei?
Poppe: Tja, eigentlich beiden. Na ja, was heißt übelnehmen? Das steht mir vielleicht nicht zu, aber ich hätte mir zumindest mehr Zögerlichkeit gewünscht. Und diese eindeutigen Entscheidungen gingen mir ein bisschen zu schnell. Ich hätte mir mehr Bedenken gewünscht, denn es ist schon eine neue Qualität, die sich da mit einem linken Ministerpräsident zeigt, weil das ja etwas Neues ist, weil es das noch nicht gegeben hat - also, Koalitionen schon mit der Linken natürlich, aber eben noch keinen Ministerpräsident. Aber das werden wir sehen. Vielleicht ist das ja auch bald vorbei. Er soll ja ein sehr cholerischer Mensch sein. Aber vielleicht macht er seine Sache ja auch gut. Es gibt auch bei den Linken, die Erfahrung mache ich ja auch, ganz vernünftige Menschen. Das ist ja gar keine Frage.
Bei einer Basiskonferenz der Linken am 27.09.2014 in Sömmerda steht Bodo Ramelow, Spitzenkandidat und Fraktionschef im Landtag, am Rednerpult.
Linken-Politiker Bodo Ramelow: Er könnte bald Ministerpräsident werden.© Martin Schutt, dpa
Ich erlebe bloß manchmal, gerade in der Basis, in den Basisveranstaltungen doch auch sehr radikale Positionen. Und wenn eine Ulla Jelpke von der Linkspartei beispielsweise einen Glückwunsch schickt an die bewaffneten Organe der DDR oder auch jetzt die Grüne Steffi Lemke in der Bundestagsrede zum 9. Oktober, als sie sagte, wir sollten den Sicherheitskräften in der DDR dankbar sein und den politisch Verantwortlichen dankbar sein, weil sie eben am 9. Oktober kein Blutbad angerichtet haben, dann ist das für mich absurd. Man kann nicht jemandem danken, der auf ein Blutbad verzichtet. – Also, ich hab da schon meine Bauschmerzen.
Deutschlandradio Kultur: Die Mitglieder in der Linkspartei, die noch aus der SED-Zeit stammen werden weniger. Neue, junge Leute kommen dazu. Können Sie das verstehen, wenn ein 20-jähriger Brandenburger die Linkspartei wählt?
Viel DDR-Nostalgie und Ignoranz gegenüber geschehenem Unrecht
Poppe: Ja, natürlich kann ich das verstehen. Es gibt eine ganze Menge Forderungen, die sind vernünftig und gut. Mit der kann die SPD mitgehen, können die Grünen mitgehen. Es gibt ja auch Gemeinsamkeiten, das ist ja keine Frage. Dennoch gibt es eben in dieser Partei mehr altes Denken noch, was mich stark an DDR-Machtdenken erinnert, als in anderen Parteien. Das ist deutlich. Es gibt auch bei vielen die Verweigerung, die DDR als Diktatur zu bezeichnen, was ich sehr problematisch finde, auch einfach deshalb, weil, das ist keine Wertung, sondern das ist einfach eine bestimmte Staatsform, wo die Machthaber eben nicht frei gewählt wurden und keine Opposition zulassen, keine legale. Und das nennt man Diktatur. Und das zu bestreiten, ist für mich absurd.
Aber da fängt diese Abwehr an, mit der DDR also irgendetwas abgewertet zu fühlen. Und da habe ich in Brandenburg doch einige Gespräche erlebt, wo ich etwas schockiert war, wie viel DDR-Nostalgie, ich weiß nicht, ob das das richtige Wort ist, aber wie viel Schönreden und wie viel Ignoranz auch gegenüber dem geschehenen Unrecht noch vorhanden ist und wie viel Unwissen auch.
Also, wenn ich höre, wie die DDR-Sozialpolitik gepriesen wird, dann frage ich mich, ob diejenigen wissen, wie es in den Altenheimen in der DDR aussah, wie es in den Jugendwerkhöfen aussah, in manchen Provinzkrankenhäusern, wo es an allem fehlte. Also, ich glaube, es ist auch viel Nichtwissen, viel Beschönigen, Nachwirkungen der DDR-Propaganda, die uns ja täglich mit Erfolgsmeldungen überschüttet hat, wo auch streng darauf geachtet wurde, dass wir über bestimmte Bereiche nicht informiert wurden.
Wenn ich nicht selbst in einem Durchgangsheim gearbeitet hättet mal für ein knappes Jahr, hätte ich mir damals zu DDR-Zeiten nicht vorstellen können, dass in diesem Staat so mit Kindern umgegangen wird. Wenn ich nicht die Jugendwerkhöfe von innen gesehen hätte und mit diesen Kindern, die von Werkhof zu Werkhof und von Heim zu Heim gewandert sind, wenn ich nicht mit denen gesprochen hätte, hätte ich es nicht für möglich gehalten. Und ich glaube, dass einfach heute noch viel geschönte Bilder existieren – trotz umfangreicher Forschung. Aber Forschung heißt ja noch nicht, dass diese Ergebnisse in das öffentliche Bewusstsein dringen.
Und die Abwehr kommt zum Teil eben auch daraus, dass manche glauben, ihr eigenes Leben wird entwertet, wenn man einen kritischen Blick auf die DDR-Geschichte lenkt.
Deutschlandradio Kultur: Frau Poppe: Was machen Sie am 9. November?
Poppe: Ich hab da verschiedene Veranstaltungen, also, einmal in der Bernauer Straße in der Gedenkstätte eine Podiumsdiskussion. Danach ist eine Feierstunde im Schauspielhaus. Dann bin ich am Brandenburger Tor. Und abends wollen wir irgendwie mit ein paar Freunden zusammensitzen und einen Sekt trinken.
Deutschlandradio Kultur: Einen freudigen Sekt oder ist es auch ein wehmütiger Sekt?
Poppe: Nein, es ist ein freudiger Sekt, dass wir das erreicht haben. Was nicht heißt, dass wir kritiklos in dieser Welt leben, aber es ist doch im Vergleich zu damals sehr vieles sehr viel besser geworden.
Deutschlandradio Kultur: Haben Sie vielen Dank.
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