Bürgerliche Feministin

06.03.2009
Simone Veil ist ohne Zweifel eine der eindrücklichsten Figuren der französischen und der europäischen Politik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Eine Überlebende des Holocaust, hat sie wie nur wenige Frauen ihrer Generation politische Karriere gemacht und war lange Zeit eine von Frankreichs populärsten Politikerinnen.
Von 1974 bis 1979 war sie Gesundheitsministerin in den Regierungen von Jacques Chirac und Raymond Barre unter der Präsidentschaft von Valérie Giscard d'Estaing. Europaweite Bedeutung erlangte sie als Mitglied des Europaparlaments, dem sie von 1979 bis 1982 als erste Präsidentin vorstand und bis 1993 angehörte. In der Regierung von Édouard Balladur wurde sie von 1993 bis 1995 nochmals Super-Ministerin für ein Riesenressort Gesundheit, Soziales und Stadtwesen; von 1998 bis 2007 war die studierte Juristin Mitglied des französischen Verfassungsrates.

In Frankreich wird sie vor allem mit dem im Volksmund nach ihr benannten Gesetz zur Legalisierung der Abtreibung, der "Loi Veil", in Verbindung gebracht, das sie 1975 als Gesundheitsministerin gegen heftige Attacken im fast ausschließlich männlich besetzten Parlament durchsetzte. Die bürgerliche Politikerin wurde damit zu einer feministischen Vorkämpferin; auch später setzte sie sich immer wieder für Gleichberechtigung ein. Daneben ist sie als starke Verfechterin der europäischen Idee in die Geschichtsbücher eingegangen.

Nun hat die große Europäerin ihre Autobiographie geschrieben. Es ist eine politische Biographie geworden, mit vielen manchmal etwas vage gehaltenen Erinnerungen an Figuren und Ereignisse und vielen politischen Stellungsnahmen und Rechtfertigungen, deren Kontext nicht immer ganz scharf beschrieben wird.

Trotzdem ist es vor allem in der ersten Hälfte ein fesselndes Buch, in dem Veil nicht nur ihre frühe Karriere und den Kampf um Gleichberechtigung schildert, sondern auch die zerbrochene Jugend, das Grauen der Deportation und der nationalsozialistischen Vernichtungslager.

1927 in Nizza in eine jüdische Familie geboren, verlebte Simone Veil eine sorglose, gut behütete Kindheit - bis zum Zweiten Weltkrieg. 1944 werden sie und ihre Familie von der SS verhaftet, mit ihrer Mutter und einer Schwester wird sie nach Auschwitz-Birkenau deportiert; im Januar 1945 überleben die drei den Todesmarsch nach Westen; die Mutter stirbt in Bergen-Belsen kurz vor der Befreiung an Typhus, während die beiden Schwestern - sowie eine dritte Schwester, die als Mitglied der Résistance in Ravensbrück inhaftiert war - überleben. Von Vater und Bruder fehlt seit 1944 jede Spur.

Veil bemüht sich auch bei der Beschreibung dieser Ereignisse sichtlich um einen gemäßigten Tonfall und gerade das macht die Lektüre dieser Passagen sehr beeindruckend. Auch die vielen historisch interessanten Details über die Zeit danach - das schnelle gesellschaftliche Vergessen und Verdrängen, die zum Teil ungeheuerlichen Gedankenlosigkeit von Mitmenschen gegenüber den Holocaust-Überlebenden - werden von Veil nüchtern dargestellt und bekommen gerade dadurch ein großes Gewicht.

Der politische Alltag von Frankreichs fünfter Republik, den Veil im weiteren Verlauf des Buches beschreibt, wirkt dagegen manchmal geradezu unbedeutend und Veils ausgewogener Tonfall ist hier oft zu detachiert. Trotzdem findet man auch hier viele interessante Details, etwa die erstaunliche Bewunderung dieser bürgerlichen, aber keineswegs konservativen Politikerin für den jetzigen Präsidenten Nicolas Sarkozy.

Rezensiert von Catherine Newmark

Simone Veil: Und dennoch leben. Die Autobiographie der großen Europäerin
Aus dem Französischen von Nathalie Mälzer-Semlinger
Aufbau Verlag, Berlin 2009
316 Seiten, 22,95 Euro