"Bürgerlich ist der Wille zum Herausragenden"

Vorgestellt von Tilman Krause · 08.04.2007
Der im vergangenen Jahr verstorbene Publizist Joachim Fest liefert in diesem Buch eine wohlwollende Definition von "Bürgerlichkeit". Der zufolge musste für Fest der Nationalsozialismus das Antibürgerliche schlechthin sein. Das erklärt auch seine nicht nachlassende Beschäftigung mit den Protagonisten des Dritten Reiches.
Von Hugo von Hofmannsthal stammt das schöne Wort, jeder Tote nehme mit sich ins Grab das Geheimnis, wie es gerade ihm möglich gewesen sei, in geistiger Hinsicht zu existieren. Wenn es unter den deutschen Publizisten der letzten Jahrzehnte jemanden gibt, bei dem dieses Geheimnis nicht ganz so groß ist, dann den ehemaligen "FAZ"-Mitherausgeber Joachim Fest. Er hat sich und seinen Lesern immer wieder die Frage vorgelegt, wie man in diesem Land, mit dieser Geschichte und angesichts der Herausforderungen durch diese Gegenwart eigentlich in geistiger Hinsicht existieren könne.

Wenige schreibende Menschen haben wie Fest beim Suchen nach einer Antwort auf diese Frage so klar und deutlich allen Ideologien, allen Utopien, allem romantischen Suchen nach Sinn eine so klare Absage erteilt. Das einzige geistige Fundament, das er anerkannte, hat jetzt einem Band mit Essays den Namen gegeben: "Bürgerlichkeit als Lebensform". Was aber ist Bürgerlichkeit?

"Bürgerlich ist die Idee der Konkurrenz, des Exzellierens auf allen Gebieten; bürgerlich ist der Wille zum Herausragenden und, daraus hervorspringend, der Sinn für individuellen Rang, auch für menschliche und künstlerische Größe, der wiederum aufs engste mit dem zu tun hat, was man das bürgerliche Genie zur Bewunderung genannt hat. Und bürgerlich ist schließlich, dies alles zusammenfassend, die Faszination durch das Einzigartige, auf deren Grund ein schroffes, im Einzelfall oft mitleidloses Bekenntnis zu menschlichen Unterschieden, sogar zur Ungleichheit greifbar wird. Der Idee nach soll sie aber den Einzelnen nicht fesseln, sondern ihm vielmehr Ansporn und Möglichkeit geben, etwas Besonderes zu werden. Auf ihrem Grunde stößt man auf jene Leidenschaft für die Teilhabe an der Kultur, aus der nach bürgerlicher Auffassung die Persönlichkeit, das Zusammenleben in geordneter Freiheit streng genommen überhaupt erst Kultur werden kann. Historisch gesprochen ist dieses Bedürfnis nach unermüdlicher Selbstformung eine Erscheinung, die allein dem Bürgertum als Klasse zugehört. Der Begriff des 'Bildungsromans’, der ja nichts anderes als die charakteristische Biographie des bürgerlichen Menschen meint, hält diese Richtung fest."

Dieser Definition zufolge musste für Fest der Nationalsozialismus (aber natürlich auch die Gegenideologie des Kommunismus) das Antibürgerliche schlechthin sein. Es ist ja in den Nachrufen auf Fest und auch beim Erscheinen seiner Autobiographie "Ich nicht" oft gefragt worden, wie sich diese nicht nachlassende Beschäftigung des Autors mit den Protagonisten des Dritten Reiches erkläre, während er die ganze weite Welt linker Politik und Ideologiebildung weitgehend ausblende.

Mancher Kritiker vermutete eine uneingestandene Faszination für die Herren Hitler und Co. dahinter. Wer die Stücke dieses Bandes liest, wird anderen Sinnes werden: Der Nationalsozialismus war nun einmal diejenige Form des Antibürgerlichen, die Fest am eigenen Leib erfahren hatte. Und diese Prägung blieb ihm Thema bis zuletzt.

Daher spürt er auch in den hier versammelten Essays über den Führerbunker oder den intellektuellen Werdegang Joseph Goebbels der Frage nach, was das nationalsozialistische Gift alles zersetzt hat und wie es wirken konnte. Nicht minder interessiert ihn hier die Fahndung nach Figuren, bei denen dieses Gift seine Wirkung nicht entfalten konnte. So kommt es zu den Beiträgen über so unterschiedliche Persönlichkeiten wie Thomas und Heinrich Mann, über den Widerstandskämpfer Adam von Trott oder den Publizisten Herbert Lüthy.

Auch hier spielt natürlich die "Bürgerlichkeit als Lebensform" hinein. Doch die beherzigenswertesten, originellsten Passagen dieses Buches sind diejenigen, in denen Fest sich mit der Problematik auseinandersetzt, dass gerade aus den Reihen des Bürgertums die größten Kritiker, ja sogar die Totengräber von "Bürgerlichkeit als Lebensform" hervorgetreten sind.

"Eine merkwürdige Erscheinung ist, dass das Bürgertum stirbt und immer wieder stirbt – und doch nicht untergeht. Schon bei Heine, Grabbe und anderen Wortführern der frühbürgerlichen Epoche kann man vom nahen Ende der bürgerlichen Welt lesen: die geistreichen und übermütigsten Grabsprüche. Bald setzen auch die düsteren Albträume einer bis in die Gegenwart reichenden kulturpessimistischen Tradition ein, begleitet und bestärkt durch die emphatischen, vom ehernen Gesetz der Geschichte feierlich legitimierten Überwältigungsprophetien des Sozialismus. Aber die einen wie die anderen sind grau vor der Geschichte geworden, das Bürgertum hat sie alle überlebt."

So steht es in dem Beitrag "Der Irrtum Hannos", geschrieben aus Anlass der Verleihung des Thomas-Mann-Preises der Stadt Lübeck an Joachim Fest im Jahre 1981. Gerade dieser mittlerweile ein Vierteljahrhundert alte Text enthält den besten Kommentar, der sich denken lässt zu der aktuellen Debatte um alte oder neue Bürgerlichkeit, die im Moment so verbissen geführt wird. Wer ihn gelesen hat, weiß, dass man die eine nicht gegen die andere ausspielen muss oder überhaupt kann. Bürgertum ist immer. Gerade im Moment erleben wir ja alle, wie es seine Renaissance erfährt. Denn der permanente Gestaltwandel ist eine seiner größten Stärken. Oder, um es mit den Worten von Joachim Fest zu sagen:

" Die bürgerliche Welt stirbt und lebt; sie lebt, indem sie stirbt. Es ist ihre spezifische Form der Selbstbehauptung, aus Untergängen Überlebenskräfte zu gewinnen und sich am eigenen Grabe Gesundheit zu besorgen. "

Joachim Fest: Bürgerlichkeit als Lebensform. Späte Essays
Rowohlt Verlag, Hamburg, 2007