Bürgerentscheid in Garz auf Rügen

Inselbewohner kämpfen um ihren Naturcampingplatz

10:59 Minuten
Blick auf das Gelbe Ufer der Halbinsel Zudar
Auf der Halbinsel Zudar im Süden von Rügen liegt der Naturcampingplatz Pritzwald. © imago images / Michael Handelmann
Von Silke Hasselmann · 16.08.2019
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Im Süden der Ostseeinsel Rügen gibt es einen urwüchsigen Naturcampingplatz: Ein Hamburger Investor wollte dort 44 Ferienhäuser bauen. Dagegen wehren sich die Einheimischen mit einem Bürgerentscheid, den sie erstmals auf der Insel selbst durchsetzten.
"Wenn es diesen wahnsinnigen Aufschrei, den wirklich dieser Ort - und ich glaube die ganze Insel - noch nie erlebt hat, wenn es diesen Aufschrei nicht gegeben hätte, wäre das Ding hier sang- und klanglos zugepflastert worden", sagt Andreas Meyer, Wahl-Rüganer seit vielen Jahren mit Wohnsitz im Städtchen Garz.
Mit dem "Ding hier" meint er den nahegelegenen Naturcampingplatz Pritzwald, den er und viele andere Rüganer aus der Umgebung gern und oft zur eigenen Erholung nutzen. Hier gibt es noch einen öffentlichen Zugang zum Boddenstrand ohne Kurtaxe oder Tagesticket. Wer zelten will, entrichtet eine preiswerte Gebühr und sucht sich selbst eine passende Stelle unter den Bäumen.
"Ursprünglich" nennt Andreas Meyer diesen Flecken Erde und ergänzt: "Wenn die das nicht aufgedeckt hätte, wenn Frau Lüth nicht erkannt hätte, in welche Richtung das geht und über die verschiedenen Kanäle die Leute motiviert hätte, wäre das Ding hier in aller Stille über die Bühne gegangen."

Bau der Ferienhäuser wurde vorerst gestoppt

"Das wäre so passiert", sagt Eike Lüth, Mitte 50, zehn Jahre jünger wirkend. Sie leitet in einen Agrarbetrieb mit 2000 Hektar Nutzfläche und arbeitet ehrenamtlich in der Garzer Stadtvertretung. Dass auf dem Naturcampingplatz Pritzwald vorerst keine 44 Ferienhäuser errichtet werden, betrachtet sie als Erfolg eines breiten Bürgerwillens gegen den Trend auf dem Rest der Insel Rügen, immer noch mehr Hotels und Ferienwohnungen zu bauen. Doch der Reihe nach.
Unterwegs auf die Halbinsel Zudar, die zur Gemeinde Garz gehört, und wo sich seit den 1960er-Jahren der Naturcampingplatz Pritzwald befindet. Bald schon verengt sich der Weg auf nur noch eine Spur. Er führt durch die kleinen Dörfer Poppelvitz und Zicker vorbei an Getreidefeldern und Wiesen. Dann tauchen linkerhand hellbraune und schwarze Mutterkühe auf. Sie stehen mit ihren Kälbern im flachen Bodden wie Wasserbüffel in Reisfeldern: "Kühe im Wasser - genau. Das ist wirklich sehr schön. So was sieht man ja auch nicht überall!"
Mehrere Kühe stehen vor der Halbinsel Zudar im Boddenwasser.
Blick von der Halbinsel Zudar auf Rügen: Kühe stehen im Boddenwasser.© Deutschlandradio / Silke Hasselmann
Angekommen am offenen Eingangstor des Campingplatzes. Die Kiefer ist der vorherrschende Baum. Darunter weiträumig verteilt: Zelte, Campingwagen mit Vordach, Chalets. Hier und da gibt es auch etwas schäbig wirkende Behausungen.
Eine Familie aus Sachsen beendet gerade ihr Frühstück am Campingtisch. Sie seien das vierte Jahr hier. Ein Grund, das gute Preis-Leistungsverhältnis, sagt die Frau: "Wir haben 156 Euro bezahlt für drei Personen mit Wohnwagen. Eine Woche."

Einheimische wehren sich gegen Investor

Natur genießen, Ruhe finden an diesem Ort auf der Insel Rügen, der nicht auf perfekten Komforttourismus gestylt ist - so kennen und lieben auch die Einheimischen diesen Platz. Doch voriges Jahr kommt Unruhe auf.
Es wird bekannt, dass der neue Betreiber auf dem von ihm gepachteten Campingplatzgrundstück zwei Bereiche mit jeweils 22 Ferienhäusern bebauen will und großflächig Schotterplätze für Wohnmobile plant.
"Hier, relativ dicht am Wasser, sollten kleinere Häuser stehen", erklärt Eike Lüth. "Mit 80 Quadratmetern ist das ja nicht ganz klein. Und da hinten in dem Bereich sollten 22 Häuser mit 120 Quadratmetern Grundfläche stehen. Die Häuser sollten 7,50 Meter hoch werden. Das Gelände hätte man angehoben, und dann wären die natürlich über die Baumwipfel gekommen. Und da haben wir gesagt: 'Das geht gar nicht. Das passt ja überhaupt nicht zum Campingplatz!' Es ging hier ja um die Ausweisung von Sondergebieten. Es hieß auch nicht mehr 'Campingplatz', sondern es sind richtige 'Ferienhausgebiete'".
Eike Lüth bekommt mit, dass ein entsprechender Bebauungsplanes in Arbeit ist. Sie gründet eine Bürgerinitiative, der sich auch Andreas Meyer anschließt, Betriebsleiter einer Rügener Wäscherei.
Der erste Erfolg stellt sich im September 2018 ein, sagt Eike Lüth: "Was wir wenigstens erreichen konnten, dass es wenigstens eine Einwohnerversammlung zu diesem Thema gibt. Und da ist dem Investor extrem viel Widerstand, Empörung entgegengeschlagen."
Andreas Meyer ergänzt: "Ich kann mich erinnern, dass da Leute - das hatte mich selbst überrascht - vor der Tür standen mit Spruchbändern. Auf denen stand: 'Geld schafft Baurecht', 'Widerstandsgruppe Zicker'. "
"Es waren Einwohner", sagt Eike Lüth, "die haben selbst mit Transparenten dagestanden und dagegen demonstriert."
Eike Lüth und Andreas Meyer stehen vor dem Naturcampingplatz Pritzwald.
Eike Lüth und Andreas Meyer sind in der Bürgerinitiative für den Erhalt des Naturcampingplatzes aktiv.© Deutschlandradio / Silke Hasselmann
Der Hamburger Grundstückspächter und Investor Jens Brauer ist gegenüber Journalisten zurückhaltend. Immerhin erklärt einmal kurz im Regionalfernsehen, warum er den Bau so vieler Ferienhäuser auf dem Campingplatzgelände plant. Kurz nachdem er den Pachtvertrag mit der Stadt Garz angeschlossen habe, so Brauer, habe ihm die Forstverwaltung "Druck gemacht".
So gebe es auf dem Waldcampingplatz ungenügenden Brandschutz, dafür aber baulichen Wildwuchs. Er müsse schließen oder eine grundlegende Umgestaltung vornehmen. Um "die mit hohen Auflagen" verbundenen Investitionen "wuppen" zu können, wolle er 44 Ferienhäuser errichten und einige davon verkaufen, so Jens Brauer im NDR.

Sprachrohr für die Interessen der Einheimischen

"Dass es hier Sachen gibt, die nicht in Ordnung sind, wissen wir auch. Wir gehen jetzt gerade in Richtung Strand zum Wasser", sagt Eike Lüth von der Bürgerinitiative für den Erhalt des Naturcampingplatzes und zeigt auf zig kleinere Motorboote, die am Strand nebeneinander aufgebockt stehen.
"Das Amt für Umwelt und Natur hat schon seine Bedenken geäußert" sagt sie, "weil: Das darf nicht sein. Wir haben ja hier genügend Möglichkeiten, damit die Boote vernünftig angelegt werden können. Und das hat uns immer dazu bewogen zu sagen: Nein, wir sind nicht Sprachrohr der Camper. Wir sind das Sprachrohr der Einheimischen."
Diese beteiligen sich im Mai in überraschend großer Zahl an der Kommunal- und Bürgermeisterwahl. Denn parallel können die Leute an einem Bürgerentscheid über die Zukunft des Naturcampingplatzes Pritzwald teilnehmen. Den hatte die Bürgerinitiative trotz der in Mecklenburg-Vorpommern hohen rechtlichen Hürden durchsetzen können. Andreas Meyer ist noch heute stolz, dass sich ausgerechnet in diesem etwas verschlafenen Winkel der Insel Rügen nach langer Zeit politischer Lethargie wieder so etwas wie Demokratie von unten regt.
"86,5 Prozent haben in unserem Sinne mit 'Ja' geantwortet", sagt Andreas Meyer. "Also: 'Soll der Campingplatz auch in Zukunft Campingplatz bleiben?' Auch die Wahlbeteiligung lag bei über 70 Prozent, und das ist diesem Bürgerentscheid geschuldet."

Der neue Bürgermeister ist für den Erhalt

Zu Gast im Rathaus Garz, wo sich Sebastian Koesling als neuer ehrenamtlicher Bürgermeister in die Kommunalpolitik kniet. Der junge Christdemokrat sprach sich im Wahlkampf für den Erhalt des Naturcampingplatzes aus und kündigte an, sich als Bürgermeister an das Ergebnis des Bürgerentscheides halten zu wollen.
Sebastian Koesling steht vor einer Wand aus Ziegelsteinen.
Bürgermeister Sebastian Koesling will den Bürgerentscheid zum Naturcampingplatz umsetzen.© Deutschlandradio / Silke Hasselmann
Nun - knapp ein Vierteljahr später - bleibt er dabei: "Das ist selbstverständlich, dass ich gerade bei über 80 Prozent den Entscheid umsetze."
Autorin: "Hätte es eine Mehrheit gegeben für den Bau dieser Häuser, obwohl Sie vorher dagegen waren?"
"Ja", sagt Sebastian Koesling, "dann hätte ich ein Problem gehabt. Aber ich habe ja gesagt, ich setze den Willen der Bürger um."
Für Bürgermeister Koesling hängt die hohe Beteiligung an der Kommunal- und Bürgermeisterwahl mit der Chance zusammen, dass die Leute über ein konkretes lokales Problem abstimmen konnten.
"Wo hat man das heutzutage in Deutschland noch", erinnert er sich. "Eine Stunde angestanden vor den Wahllokalen! Eine Stunde, um ihr demokratisches Grundrecht in Anspruch zu nehmen! Selbst bei meiner Bürgermeister-Stichwahl 50 Prozent Wahlbeteiligung. Wo wir sonst bei Landratswahlen bei 20 Prozent manchmal eine peinliche Wahlbeteiligung haben. Wo man sagt: Ist das überhaupt eine legitime Wahl von der Beteiligung her? Da sieht man, dass Demokratie auch in Deutschland manchmal noch gut funktioniert. Man muss die Leute nur mitnehmen."

Suche nach einem geeigneten Tourismuskonzept

Eigentlich wollten der neue Bürgermeister und die ebenfalls neugewählte Stellvertreterin, Eike Lüth, das Thema " Naturcampingplatz statt Ferienhaussiedlung" kommende Woche endgültig abräumen. Doch weil noch an der Beschlussvorlage gefeilt wird, um jedes Klagerisiko für die Stadt Garz auszuschließen, nahmen sie diesen Punkt wieder von der Tagesordnung der Stadtvertreterversammlung.
Der Bürgerwille werde eben ein wenig später umgesetzt, sagt Eike Lüth. Mindestens ebenso wichtig findet sie, dass sich die Kommunalpolitiker endlich ein Tourismuskonzept für den gesamten Bereich Garz überlegen. Der stand lange im Schatten von Rügens Ostseebädern.
"Wir müssen deshalb als Stadt uns beraten", sagt Eike Lüth. "Was wollen wir wirklich touristisch? Was vertragen wir? Und was wollen wir nicht?"
Die meisten Einheimischen wollen nicht, dass die Gegend um Garz das Schicksal anderer Rügen-Gegenden nimmt, ergänzt Andreas Meyer auf der Rückfahrt vom Naturcampingplatz Pritzwald an der Boddenseite:
"Das, was wir uns 1990/91 auf die Fahnen geschrieben hatten - unter anderem eben sanfter Tourismus - das ist jetzt gemündet in einen professionellen und absolut profitorientieren Tourismus, der mit dem, was wir früher mal vorhatten, nichts mehr zu tun hat. Wir verschandeln die Insel mit riesigen Ferienhaussiedlungen. In manchen Gebieten stehen über hundert solcher Häuser auf der grünen Wiese. Da stehen nur diese Ferienhäuser. Da ist kaum eines, das weniger als eine Million Euro gekostet hat. Aber es darf dort niemand wohnen, weil sie als Ferienhäuser deklariert sind. Das heißt: Zehn Monate im Jahr sind die Rollläden unten. Das sind tote Dörfer."
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