Bürgerbühnen-Festival in Dresden

Die Experten des Alltags machen Theater

05:46 Minuten
Drei Darstellerinnen sitzen auf der Bühne an einem Tisch.
Zu Gast beim Festival: "Long Live Regina!" von Self-Theatre aus Ungarn mit Rita Róbertné Hováthné, Anita Rácz und Noémi R. Lakatosné © Staatsschauspiel Dresden / Gabriella Csoszó
Von Susanne Burkhardt · 25.05.2019
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Sich einbringen, mitmischen: Der Begriff "Partizipation" hat nicht nur in der Politik Konjunktur, sondern auch im Theater. Wie spannend das sein kann, zeigen Produktionen mit Laien aus zehn europäischen Ländern beim Bürgerbühnenfestival in Dresden.
Seid ihr real? Das fragen die drei Schauspieler des dänischen Kollektivs Fix & Foxy das Paar Alejandro und Agnes: Zwei junge Leute, die sich bereit erklärt haben, Protagonisten zu sein in einem Stück, das sie nicht kennen. Ohne zu wissen, was sie erwartet.
Unter der Anleitung der drei Profis spielen die beiden jetzt nicht nur sich selbst, sondern Nora und Torvad in Ibsens Drama "Nora oder ein Puppenheim". Sie beantworten intime Fragen zu ihrer Beziehung und sprechen Texte, die ihnen vorgesagt werden. Nora hat für ihren Mann gelogen – das droht aufzufliegen – wird seine Liebe zu ihr stark genug sein?

Dramatische Entwicklung mit echten Tränen

30 Menschen verfolgen zusammengepfercht in der kleinen Wohnung des Paares die dramatische Entwicklung. Am Ende muss Alejandro der Figur Nora schlimme Sachen sagen. Als Nora ihn verlassen soll, bricht ihre Darstellerin, Agnes, in echte Tränen aus.
Sie kann nicht mehr trennen zwischen Rolle und der eigenen Beziehung. Auch Zuschauer weinen. Ein zutiefst verstörender Moment – der die einen berührt, die anderen empört: Darf man Laien so einer Situation ungeschützt aussetzen?
"Nora & Helmer" steht an den Klingeln eines Wohnhauses
"A Doll's House" von Fix&Foxy aus Dänemark wird in einer Privatwohnung in Dresden aufgeführt.© Staatsschauspiel Dresden
"Ich würde sagen, es war grenzwertig", sagt Alejandro nach der Performance. "Aber ich glaube, darum geht es ja auch in diesem Stück – diese Entscheidung zwischen uns selbst und der Rolle, die wir spielen. Es ist sehr schwer, etwas zu einer Person zu sagen, als wäre man jemand anderes. Das ist Teil der Verwirrung."
Und ein zentraler Punkt beim professionellen Arbeiten mit Laien: Die Verantwortung für die Mitwirkenden und ihre Geschichten.

Geschichten von Obdachlosen und Fußballfans

Wurde anfangs vor allem autobiografisch und gern mit Chören erzählt, haben sich die Bürgerbühnen ästhetisch enorm weiterentwickelt. Oft sind sie von anderen Stadttheater- oder Freie-Szene-Produktionen kaum noch zu unterscheiden. Die eingeladenen Arbeiten dieses Festivals, Geschichten von Obdachlosen, Fußballfans oder dem Stigma des Andersseins, machen das sehr deutlich.
In der ungarischen Produktion "Long live Regina"– erzählen Roma-Frauen vom täglichen Rassismus, dem sie ausgesetzt sind. Etwa, wie sie als Schwangere in Krankenhäusern erniedrigt werden. Sie wechseln dabei die Rollen. Eine Produktion im Grenzbereich von sozialer Arbeit und Kunst.

Große Sehnsucht nach Realität

Woher kommt die große Sehnsucht nach Realität? Ein Grund dafür sei die enorme Polarisierung unserer Welt, das fehlende Vertrauen in Politik, Religion und die Medien, vermutet der irische Theaterleiter Simon Sharkey:
"In dieser Situation brauchen wir Räume für den authentischen und ehrlichen Austausch. Menschen suchen Geschichten, die sie miteinander teilen können. Das traditionelle Theater mit dem Blick eines Autors kommt hier an Grenzen. Menschen suchen die kollektive Erfahrung und individuelle Lebensgeschichten."
Doch während in Belgien partizipative Formate längst regulärer Bestandteil der Kulturszene sind und staatlich gefördert werden, finden sie in Ungarn und Polen vor allem im Off-Bereich statt.

Revolutionäres Potenzial und ästhetische Vielfalt

"Die Themen dort sind dementsprechend politischer, haben mehr revolutionäres Potenzial, sind in der Ästhetik oft einfacher, sind oft gesellschaftlicher gedacht, während in Belgien oder Frankreich die ästhetische Vielfalt mehr Fokus hat", erklärt Festivalleiterin Miriam Tscholl.
Porträtfoto von Miriam Tscholl
Miriam Tscholl leitet seit zehn Jahren die Bürgerbühne am Staatsschauspiel in Dresden.© picture alliance / Sebastian Kahnert/dpa-Zentralbild/dpa
Seit zehn Jahren leitet sie die Dresdner Bürgerbühne am Staatsschauspiel. Auch hier haben sich die Themen in dieser Zeit verändert: "Man muss sagen, durch den Konflikt, den die Stadt seit 2015 hat, wo die Frage der Migration und Pegida aufeinanderstoßen und so viel Wut und Spaltung in unserer Stadt ist, haben sich Themen politisiert in der Bürgerbühne."
Eine Entwicklung, die Regisseure aber auch in einen Zwiespalt bringt: Politisch sein zu wollen und dabei gleichzeitig künstlerisch autonom zu bleiben. Dazu kommen ethische Fragen, wie sie Melanie Hinz von der Fachhochschule Dortmund in einer der vielen Diskussionsrunden des Festivals aufwirft: Wie vermeide ich zum Beispiel die Wiederholung von Diskriminierung auf der Bühne?

Theater für neue Milieus öffnen

"Es gibt auch einen Innovationsdruck, zu sagen, jetzt müssen marginalisierte Gruppen eine Stimme haben und auf eine Bühne gehen", sagt Melanie Hinz. "Und tun wir denen immer einen Gefallen?"
Fragen, die bei jeder Bürgerbühnenproduktion neu zu verhandeln sind. Die Öffnung der Institution Theater für neue Milieus jenseits der weißen Mittelschicht ist ein unausweichlicher und gleichzeitig zäher Prozess. Die Bürgerbühnen sind ein wichtiger Teil davon. Dass sich hier authentische Geschichten und Kunstanspruch längst nicht mehr ausschließen müssen, das kann man beim Bürgerbühnenfestival in Dresden immer wieder erleben.
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