Bürger für mehr Klimaschutz

Klimawandel vor Gericht

Schüler demonstrieren am 25. Januar 2019 in Berlin gegen politische Untätigkeit beim Klimawandel.
Waldbrände, Überschwemmungen, Extremwetter: Die Politik tue nicht genug gegen den Klimawandel, meinen immer mehr Bürger . © picture alliance/Gregor Fischer/dpa
Von Beate Ziegs · 29.01.2019
900 Klagen in 24 Ländern - immer mehr Bürger wehren sich vor Gericht gegen eine ihrer Ansicht nach unzureichende Klimapolitik. Jüngster Fall: zehn Familien aus verschiedenen europäischen Ländern verklagen die EU. Auch eine deutsche Familie ist dabei.
Armando Ferrão Carvalho ist Portugiese. Er und seine Familie leben von der Forstwirtschaft. Beziehungsweise: Sie lebten davon, denn im Oktober 2017 zerstörte ein Feuer seinen gesamten Wald, insgesamt 12 Hektar. In den sieben Monaten davor hatte es nicht einen Tropfen Regen gegeben. Sowohl die Dürre als auch den Ausbruch des Megafeuers, dessen verheerende Kraft durch den Tropensturm Ophelia verstärkt wurde, führen Wissenschaftler auf den Klimawandel zurück.
Gemeinsam mit anderen Familien – darunter rumänische Viehzüchter, italienische Bergbauern, französische Lavendelfarmer und finnische Rentierzüchter – haben die Carvalhos nun eine Klage beim Gericht der Europäischen Union in Straßburg eingereicht. Ihr Vorwurf: Der Europäische Rat und das Europaparlament verletzen die Grundrechte ihrer Bürger, weil sie sie nicht ausreichend vor den Folgen des Klimawandels schützen. Ihre Forderung: schärfere CO2-Ziele. Statt der bislang geplanten Reduktion um 40 Prozent bis 2030 sollen es zwischen 50 und 60 Prozent sein.
Ein Pickup mit mobilem Löschgerät fährt am 19.06.2017 in den frühen Morgenstunden auf einer Straße zwischen den kleinen Ortschaften Casalinho und Enchecamas, etwa 150 Kilometer nordöstlich von Lissabon, (Portugal) auf einer Straße neben brennendem Buschwerk und Bäumen entlang. Der verheerende Waldbrand mit vielen Toten in Portugal ist der Polizei zufolge wohl durch Blitzschlag ausgelöst worden.
In den vergangenen Jahren brannten in Portugal immer wieder Wälder - auch wegen des Klimawandels, meinen die Kläger.© dpa / Peter Kneffel
Auch die Familie Recktenwald hat sich der Klage angeschlossen. Sie besitzt und betreibt auf der Ostfriesischen Insel Langeoog das Hotel "Strandeck" und das Restaurant "Seekrug". Das Lokal liegt auf einer 20 Meter hohen Düne, das Hotel etwas geschützter dahinter.
"Wir haben jetzt auflaufendes Wasser. Es ist gleich Flut", sagt Michael Recktenwald. Er führt das Restaurant, seine Frau Maike das Hotel.
"Das Meer grundsätzlich birgt ja Gefahren, mit denen wir hier auf den Inseln aber seit Jahrhunderten gut umgehen können", so der Restaurantbetreiber. "Das Problem ist tatsächlich die Klimaveränderung, die dazu führt, dass der Meeresspiegel ansteigt – der ist seit den 1950er-Jahren bereits um 23 Zentimeter angestiegen – und dass die Stürme immer früher anfangen und auch durch den höheren Wasserstand immer heftiger sind. Das hat zur Folge, dass die Dünen immer häufiger angegriffen werden. Und hinter unserer schmalsten Dünenkette befindet sich unser Trinkwasserresevoir."
Eine so genannte "Süßwasserlinse", wie es sie auf fünf der insgesamt sieben Ostfriesischen Inseln gibt. Dabei handelt es sich um einen uhrglasförmig aufgewölbten Körper, in dem sich das allein durch Niederschläge entstehende Grundwasser sammelt. Seitlich und in der Tiefe wird die Linse durch eine Brackwasserzone vor dem Salzwasser geschützt. Da Süßwasser leichter ist als Salzwasser, schwimmt es wie ein Fettauge auf dem Salzwasser. Aus 13 Brunnen wird das Grundwasser ins Wasserwerk gepumpt, von wo es über ein 29 Kilometer langes Rohrnetz die etwa 1000 Haushalte auf Langeoog versorgt.
"Die Intervalle der Küstenschutzmaßnahmen werden immer kürzer, jetzt sogar zweimal hintereinander in 2018 und 2017", sagt Michael Recktenwald. "Und sie gehen jetzt schon davon aus, dass sie allerspätestens 2020, wahrscheinlich früher, die nächsten Küstenschutzmaßnahmen – sprich Aufspülen des Strandes – machen müssen."
"Es geht ja nicht nur um den Deich, der das Salzwasser abhalten muss", ergänzt seine Frau. Mit Grauen erinnert sich Maike Recktenwald an den Winter 2017/18, als es von November bis einschließlich Februar nahezu unaufhörlich regnete:
"Zudem hatten wir einen hohen Pegelstand, sodass wir quasi von innen mit Regenwasser abgesoffen sind. Ganz einfach. Es stand blank. Die Entwässerung hat nicht funktioniert, weil, wir entwässern ja in die Nordsee. Logisch. Das Grabensystem endet am Sieltor. Bei Niedrigwasser werden die Sieltore geöffnet und das Regenwasser kann abfließen. Jetzt konnten die Sieltore nicht mehr geöffnet werden, das heißt, unser Regenwasser konnte nicht ablaufen. Und wenn wir dann eben diese festgefrorenen Wetterlagen haben, dann brauche ich jetzt ein Schöpfwerk, um das rauszutragen, das Wasser. Hmmm – fangen wir erstmal mit einer Eimerkette an? Ich weiß es nicht."

Die Klage wird aus Spenden finanziert

Erst einmal gehe es ums Trinkwasser, meint Michael Recktenwald. "Aber das ist nur so ein klitzekleines Teil des Gesamtproblems. Wenn wir nichts unternehmen, dann werden wir auch diese Erwärmungen auf zwei Grad nicht halten können. Dann wird das weitergehen. Und was dann passiert – das ist fürchterlich! Und wir hoffen natürlich, deswegen haben wir ja diese Klage mitangestrengt, dass wir das Ruder noch rumreißen!"
Christoph Bals, Politischer Geschäftsführer von "Germanwatch", hält das für möglich: "Ich bin bereit, dafür zu kämpfen", sagt er.
Die Entwicklungs- und Umweltorganisation Germanwatch ist Mitinitiator der Klage – die im Übrigen aus Spenden finanziert wird. Laut UNEP, dem Umweltprogramm der UNO, sind in 24 Ländern fast 900 Prozesse anhängig, bei denen es um das Klima geht.
"Das eine ist, dass die Betroffenheit durch den Klimawandel wesentlich existenzieller heute ist für viele Menschen, als das noch vor zehn Jahren der Fall gewesen ist, und dass diese Wetterextreme jetzt dem Klimawandel sehr eindeutig zugeordnet werden können", sagt Bals. "Das andere ist, dass offensichtlich ist, dass die Politik nicht schnell genug vorangeht, um diese Gefahren abzuwenden von den Menschen. Und das führt dann einfach dazu, dass der Klageweg als eine Möglichkeit mitbestritten wird."
Und das manchmal mit erstaunlichem Erfolg. So zwang die niederländische Umweltgruppe "Urgenda" die Regierung per Gerichtsbeschluss, die Reduktion von Treibhausgasen bis 2020 um 25 Prozent zu erhöhen statt, wie geplant, um nur 17 Prozent. Inzwischen haben die Niederlande ein Klimaschutzgesetz verabschiedet, das als vorbildlich gilt.

"Es sind wirklich Präzendenzfälle"

Solche Erfolge machen Mut. Doch können sie nicht darüber hinweg täuschen, dass enorme juristische Hürden genommen werden müssen. Im Fall der EU-Klage zum Beispiel müssen die Kläger zwar persönlich betroffen sein – sind jedoch viele Menschen betroffen, können sie gemäß den Verfahrensregeln nicht klagen. Christoph Bals:
"Das ist in unseren Augen offensichtlich absurd, bei einem Problem wie dem Klimawandel so zu argumentieren. Man muss sich das mal vorstellen, nehmen wir mal ein extremes Beispiel: Eine ganze Insel geht unter wegen des Klimawandels und dass man dann diesen Menschen sagt: "Eure Grundrechte können nicht geschützt werden, weil ihr alle davon betroffen seid; wenn nur einer betroffen wäre, dann ja, aber wenn ihr alle betroffen seid, nein." Das heißt, es sind wirklich Präzedenzfälle, wo aufgrund der neuen, bisher nicht dagewesenen Bedrohungen, die jetzt durch den Klimawandel da sind, auch die Rechtsprechung sich dementsprechend weiterentwickeln muss.
Das Gericht der Europäischen Union hat die Klage inzwischen formal angenommen. Die angeklagten Institutionen haben in ihrer Antwort die Zulässigkeit allerdings zurückgewiesen. Roda Verheyen, die mit zwei weiteren Anwälten die Kläger vertritt, lässt sich davon nicht beirren:
"Es geht hier nicht um irgendwelche Vorstellungen irgendwelcher Politiker, sondern es geht um Familien, die sagen: Wann, wenn nicht jetzt? Wenn ich mich nicht jetzt schütze – in 20 Jahren kann ich nicht darauf klagen, dass mein Deich erhöht wird."
Sie baut auf die Einsicht der Richter: "Die Rechtsprechung der europäischen Gerichte ist diesbezüglich ziemlich restriktiv, weil man ja ursprünglich in der EU davon ausgegangen ist, dass man ein Konstrukt ist, was die Wirtschaft betrifft und nicht die Bürger. Es gab ja ursprünglich gar keine Bürger. Die hatten auch ursprünglich keine europäischen Menschenrechte. Aber wir sagen ihnen: 'Das hat sich geändert!' Also, ich bin weiterhin der Auffassung, dass die Klage zulässig sein muss. Ich muss in der Lage sein, ein europäisches Gericht zu bitten, zu überprüfen, ob der Gesetzgeber meine Grundrechte ausreichend schützt. Dafür ist das Gericht da!"
Die Luftaufnahme vom 22.07.2013 zeigt die ostfriesische Insel Langeoog (Niedersachsen) im Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer. 
Wie viel von der ostfriesischen Insel Langeoog wird in 20 Jahren noch über dem Meeresspiegel liegen, wenn es so weitergeht?© dpa / picture alliance / Ingo Wagner
Der "Seekrug" ist gut besucht, in der Küche herrscht Hochbetrieb. Michael Recktenwald ist gelernter Küchenmeister. Er hat das Restaurant Schritt für Schritt zu einem biozertifzierten Betrieb umorganisiert. Von der Entscheidung des Europaparlaments und des Europäischen Rats, die Klage zurückzuweisen, ist er enttäuscht. Aber ans Aufgeben denkt er nicht.
"Unser Leben und unsere Arbeit haben wir ja schon lange umgestellt. Insofern tun wir da natürlich nicht aufgeben", sagt er. "Was uns wirklich ein Anliegen ist, ist die nächste Generation. Also, wenn mein Sohn jetzt vielleicht mal sagen würde, er übernimmt die Bude hier, wir saufen aber in 20 Jahren ab, dann ist das nicht mehr gegeben. Und wir möchten natürlich nicht, dass unsere Kinder – also mit meinem Bruder zusammen haben wir halt drei Kinder in der Familie – dass die irgendwann mal sagen: 'Ihr seid doch die Biofuzzis, die Bioleute! Ihr habt doch genau gewusst, was hier passiert! Warum habt ihr denn nix gemacht?' Das wollen wir uns natürlich nicht vorwerfen lassen. Und das ist auf jeden Fall ein Motivationsgrund der ganzen Geschichte, dass wir sagen: 'Für unsere Kinder wollen wir uns da gewaltig anstrengen.'"

Deutschland beim Klimaschutz auf dem absteigenden Ast

Die EU-Klage ist auf die Zukunft ausgerichtet. Sie stützt sich dabei auf das Pariser Klimaschutzabkommen von 2015, in dem alle UN-Mitgliedsstaaten beschlossen haben, den Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur bis 2030 auf maximal zwei Grad Celsius über dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen. Aber dann veröffentlichte der Weltklimarat IPCC im vergangenen Oktober seinen Sonderbericht und schlug Alarm. Hoesung Lee, Vorsitzender des Weltklimarats:
"Dies ist einer der wichtigsten Berichte, der jemals vom IPCC verfasst wurde. Die entscheidenden Punkte sind erstens, dass der Klimawandel schon heute überall auf der Welt die Umwelt und die menschlichen Existenzgrundlagen beeinflusst. Zweitens ist deutlich, dass die Erwärmung auf maximal 1,5 Grad begrenzt werden sollte anstatt, wie bisher angenommen, auf zwei Grad. Eine Begrenzung auf 1,5 Grad würde ausserdem globalen Zielen wie Nachhaltigkeit und Bekämpfung von Armut zugute kommen."
Deutschland ist von diesem ambitionierten Ziel weit entfernt. Im Klimaschutz-Index, der die Fortschritte einzelner Länder bei der Umsetzung des Pariser Abkommens misst und der im Dezember bei der Klimakonferenz in Kattowitz vorgestellt wurde, ist Deutschland innerhalb eines Jahres um fünf Plätze auf Rang 27 abgerutscht. Kein Wunder, denn das im nationalen Klimaschutzprogramm vereinbarte Ziel, die Treibhausgasemissionen bis 2020 um 40 Prozent gegenüber 1990 zu senken, wurde auf 2030 vertagt. Noch immer gibt es keinen verbindlichen Zeitplan für den Ausstieg aus der Kohle, ebenso lässt das im Koalitionsvertrag vereinbarte Klimaschutzgesetz auf sich warten. Und wenn es um Kohlendioxidgrenzwerte für Neuwagen geht, kuscht die einstige Klimakanzlerin vor der Autoindustrie und ringt in Brüssel um faule Kompromisse.

Drei Biobauern gegen die Bundesregierung

Genau an diesen Versäumnissen setzt eine Vollzugsklage an, die drei Biobauern gemeinsam mit der Umweltorganisation Greenpeace im Oktober vor dem Berliner Verwaltungsgericht gegen die Bundesregierung eingereicht haben, weil diese die Schutzpflichten gegenüber ihren Bürgern vernachlässige. Roda Verheyen vertritt auch in diesem Fall die Kläger:
"Diese Vollzugsklage ist meines Erachtens weltweit die erste zu sagen: 'Es gibt ein Ziel, jetzt setzt es um.' Die meisten Klagen, die ich ansonsten kenne, sind im wesentlichen gerichtet auf entweder stärkere Klimaziele oder überhaupt auf die Verabschiedung eines Klimaschutzplans."
Das Problem ist, dass auf die Einhaltung einer Norm geklagt wird, die nicht als Gesetz verabschiedet ist, denn ein Klimaschutzgesetz gibt es ja – noch – nicht. Die Frage ist also, ob es sich beim Klimaschutzziel 2020 um einen justiziablen Rechtsakt handelt.
"Aber wir haben hier in Deutschland inzwischen schon eine Tradition, dass Pläne und Programme, die beschlossen werden und die bindend sind, auch umzusetzen sind. Stichwort Luftreinhaltepläne", sagt Verheyen. "Und insofern ist die Hürde aus meiner Sicht rechtlich gar nicht so hoch, die da zu nehmen ist."
Die Bundesregierung wird vor Gericht vom Umweltministerium vertreten werden – das auf Nachfrage von Deutschlandfunk Kultur vollstes Verständnis für die Kläger zeigt:
"Die Klimaschutzanstrengungen Deutschlands haben zwar Fortschritte gebracht, aber noch nicht zum Erreichen unserer Ziele geführt. Deshalb konzentrieren wir uns darauf, beim Klimaschutz wieder nach vorne zu kommen. Uns eint also dasselbe Ziel."
Das war Ende Dezember. Doch wie sich inzwischen herausgestellt hat, hat dieses vollmundige Bekenntnis zu gemeinsamen Zielen das Bundesumweltministerium nicht davon abgehalten, die Klage abzuweisen. Ob das Gericht sie trotzdem für gerechtfertigt hält, ist noch nicht entschieden.
Der peruanische Kleinbauer Saul Luciano Lliuya(r) sitzt mit seiner Anwältin Roda Verheyen am 13.11.2017 im Oberlandesgericht in Hamm (Nordrhein-Westfalen).
Die Klimaanwältin Roda Verheyen hat schon den peruanischen Kleinbauern Saul Luciano Lliuya bei dessen Klage gegen RWE vertreten. © picture alliance / Guido Kirchner/dpa
Für Roda Verheyen ist die Klage vorm Berliner Verwaltungsgericht bereits die dritte Klimaklage: Sie vertritt auch den peruanischen Kleinbauern Saúl Luciano Lliuya aus Huaraz, der vom deutschen Energiekonzern RWE verlangt, sich an der Sicherung seines Hauses zu beteiligen. Das Haus liegt an einem See am Fuß der Anden, der durch schmelzende Gletscher angeschwollen ist. Die Gletscherschmelze wiederum lässt sich eindeutig auf den Klimawandel zurückführen, an dem RWE mit seinen CO2-Emissionen beteiligt ist, und zwar weltweit mit 0,47 Prozent. Das ist auch die Höhe, zu der RWE für die Sicherungsmaßnahmen beitragen soll, womit sich der Schadensersatz auf 21.000 Euro beliefe. Eigentlich sind das Peanuts für den Energieversorger. Aber wenn der Fall Schule macht, könnten auch andere Konzerne wegen ihrer Emissionen zur Verantwortung gezogen werden.
Die Aussicht, dass er Schule macht, ist nicht schlecht, denn das zuständige Oberlandesgericht Hamm hat festgestellt, dass Klimaschäden durchaus eine Unternehmenshaftung begründen können und die Klage insofern rechtlich schlüssig ist.
"Wir befinden uns jetzt im kleinteiligen Beweisverfahren", so Roda Verheyen. "Das Oberlandesgericht Hamm macht mir natürlich Mut, denn es hat sich dieser Aufgabe gestellt, hat sich hinweggesetzt über eine sehr große Menge von Schrifttum und hat gesagt: 'Ne, das muss schon gehen, das muss schon eine Verantwortung geben.' Ja, und wenn das Oberlandesgericht in Hamm das kann, dann sehe ich nicht, warum das Europäische Gericht oder auch das Verwaltungsgericht Berlin das nicht kann."
Klimaklagen können Klimapolitik nicht ersetzen, aber sie können sie vorantreiben. Zumal immer mehr Menschen betroffen sind und endlich Taten sehen wollen.
"Ich bekomme fast täglich Anfragen von Leuten, die selber was machen wollen", betont die Anwältin. "Deichverbände, die sagen: Was kann ich denn machen, wenn aus meiner Sicht die Deichbemessungshöhen zu gering gewählt werden von den Ländern? Und so weiter. Das ist ja konkret. Das wird immer konkreter. Und ich kann jetzt schon sehen, welche nächsten Fälle wir hier betreuen werden in den nächsten zehn Jahren: Das sind die Fälle, wo der Staat sich entscheidet, nicht anzupassen. Ob aus dem Huaraz-Fall – also Lliuya gegen RWE – tatsächlich Hunderte von Fällen werden, das halte ich für absolut unwahrscheinlich. Denn das Verfahren ist durchaus aufwendig, es kostet Geld. Das ist Theorie."

Klimaschutz und die Verfassung

Auch die Karlsruher Verfassungsrichter müssen sich mit dem Klimawandel auseinandersetzen. Ihnen liegt seit November eine Verfassungsbeschwerde vor, die unter anderen vom Bund für Umwelt- und Naturschutz BUND und dem Solarenergie-Förderverein Deutschland eingereicht wurde. Erneut wird der Bundesregierung vorgeworfen, die eigenen wie auch die Klimaziele der EU zu verfehlen sowie internationalen Verpflichtungen zum Klimaschutz, die sie eingegangen ist, nicht nachzukommen. Dieses "Unterlassen" bedrohe nicht nur die Grundrechte auf Leben, Gesundheit und Eigentum, sondern sei zudem eine Gefahr für die freiheitlich-demokratische Grundordnung. Felix Ekardt ist Leiter der Forschungsstelle Nachhaltigkeit und Klimapolitik in Leipzig und hat die Klage mit vorbereitet.
"Demokratie ist Abwägung zwischen verschiedenen Freiheitssphären, zum Beispiel Unternehmer- und Konsumentenfreiheit einerseits und das Recht auf die elementaren Freiheitsvoraussetzungen – Leben, Gesundheit und Existenzminimum – andererseits, die durch den Klimawandel gefährdet sind", sagt Ekardt. "Da ist politischer Gestaltungsspielraum. Aufgabe von Verfassungsgerichten ist aber, die Grenzen der Abwägung zu überwachen. Und eine Grenze ist: Man darf nicht so abwägen, dass die physischen Grundlagen der Demokratie zum Einsturz kommen. Und das droht, wenn der Klimawandel weiterläuft und wir in eine Welt der Klima- und Bürgerkriege hinein laufen, weil beispielsweise Nahrung und Wasserversorgung in Teilen der Erde knapp werden, es deswegen riesige Migrationsbewegungen gibt usw."

Schlafwandelnd in die Klimakatastrophe?

Mit dieser Auffassung stehen die Beschwerdeführer nicht alleine. In seinem aktuellen Risikobericht, den das Weltwirtschaftsforum Mitte Januar vorstellte, wird der Klimawandel als eine der größten globalen Bedrohungen des 21. Jahrhunderts bezeichnet. Die Veränderungen haben nicht nur Auswirkungen auf Umwelt, Wirtschaft und Gesellschaft, sondern stellen auch ein erhebliches Risiko für die Gesundheit dar. Alison Martin, Mitautorin des Berichts, sagt:
"Von allen Risiken, die wir in dem Bericht sehen, hinterlässt die Bedrohung der Umwelt den Eindruck, als ob die Welt schlafwandelnd einer Katastrophe entgegengeht. Wir haben extreme Wetterereignisse, aber es fehlen der politische Wille und die kollektive Einigkeit, sie zu bekämpfen. Stattdessen treiben wir immer tiefer in globale Probleme. Tatsächlich geht es hier um jedes Zehntel Grad Celsius, denn es sind die Armen und am Verletzbarsten, die am stärksten betroffen sein werden, wenn wir versagen.
Der Klimaschutz wird damit zu einem massiven Menschenrechtsproblem.
"Deswegen erleben wir auf der einen Seite, dass mehr geklagt wird", sagt Christoph Bals von Germanwatch. "Wir erleben auch, dass Teile der Zivilgesellschaft, die bisher kaum kooperiert haben und wenig miteinander zu tun hatten – zum Beispiel die ganze Bewegung der Menschenrechts-Akteure wie Amnesty: Wenn Sie sich die aktuelle Programmatik von Amnesty International anschauen, steht der Klimawandel ganz oben auf der Agenda. Wir sehen das auch bei Organisationen, die im Bereich der Sicherheit aktiv sind, also die sehen, dass bei immer mehr Konflikten und Kriegen auf diesem Planeten der Klimawandel als Risikoverstärker eine immer stärkere Rolle spielt. Das heißt, hier kommen Gruppen zu diesem Thema, die wir vor zehn Jahren noch nicht gehabt haben."
Klimaschützer Christoph Bals, der politischer Geschäftsführer der Umweltorganisation Germanwatch ist. 
Christoph Bals, politischer Geschäftsführer der Umweltorganisation Germanwatch.© Valentin Pfleger/Germanwatch
"Unsere Bundesregierung unternimmt nicht sonderlich viel, und wir alle setzen sie aber auch nicht sonderlich unter Druck. Und das gilt für andere Staaten auch", kritisiert Felix Ekardt von der Forschungsstelle Nachhaltigkeit und Klimapolitik in Leipzig: "Wir müssen auch eine andere Klimapolitik einfordern. Und das tun wir bisher nicht, weil wir die Grundlagen menschlicher Motivation häufig nicht richtig verstehen. Momentan sind Faktenwissen und Klimawerte bei vielen Menschen Top. Wir begreifen aber nicht, dass es eher Eigennutzkalküle sind, die uns bremsen. Zum Beispiel Bequemlichkeit, Gewohnheit, Verdrängung, andere noch schlimmer finden als sich selbst, das sich vom Bauch her nicht Vorstellenkönnen der Katastrophe und des eigenen Beitrags dazu. Und auch Normalitätsvorstellungen: das große Schnitzel jeden Mittag, der Urlaubsflug – am besten drei Mal im Jahr – ist normal. Meine Facebook-Freunde machen es doch auch alle und meine Kollegen auch. Und das wissen auch die Politiker. Und deswegen machen sie wie Angela Merkel auch nur symbolische Eisbärenpolitik. Und mit unserer Klimaklage wollen wir genau das beenden. Es reicht nicht aus, nur symbolisch tätig zu werden."

Basiert die Klimapolitik der Bundesregierung auf überholten Fakten?

"Dem Bundesgesetzgeber [sind] eine Reihe von Fehlern bei der Erhebung der Tatsachengrundlage der bisherigen Klimapolitik unterlaufen", heißt es in der Verfassungsbeschwerde des BUND und anderen. "Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch wiederholt deutlich gemacht, (...) dass die Ermittlung der vom Gesetzgeber zugrunde gelegten Tatsachen sorgfältig vonstatten gehen muss. (...) Wenn der Gesetzgeber die neue Forschung (...) in keiner erkennbaren Weise auch nur zur Kenntnis genommen hat, so begründet dies einen rügbaren formalen Fehler der Gesetzgebung, der zur Nachbesserung zwingt."
Mit anderen Worten: Die Bundesregierung operiert bei ihrer Klimapolitik mit überholten Fakten. Und das ist nach Auffassung des Klagebündnisses verfassungswidrig. Der Weltklimarat IPCC versieht seine Berichte regelmäßig mit gesonderten Handlungsempfehlungen für politische Entscheidungsträger.
Deutliche Warnungen sprechen Klimaexperten auch für die Wirtschaft aus. Andrew Light zum Beispiel gehört zu den Fachleuten, die den amerikanischen Präsidenten in einem Sonderbericht warnen, mit welchen Verlusten zu rechnen ist:
"Die Kosten, die in den letzten Jahren durch Extremwetterereignisse verursacht wurden, belaufen sich in den USA auf 200 Milliarden Dollar. Wenn wir nichts gegen den Klimawandel unternehmen, wird sich der Schaden für die amerikanische Wirtschaft bis zur Mitte des Jahrhunderts auf hunderte Millarden Dollar belaufen – pro Jahr!"
Zukunftsprognosen sind ihrer Natur nach mit zahlreichen Unsicherheitsfaktoren behaftet. In der Klimaforschung kann jedoch auch bei aktuellen Naturkatastrophen der Anteil des Klimawandels – und damit auch von Staaten und Firmen, die ihn verstärken – immer genauer beziffert werden. Möglich ist das durch die so genannte Attributions- oder Zuordnungswissenschaft. Zu den Pionieren dieser noch jungen Forschungsrichtung gehört die deutsche Physikerin Friederike Otto, die an der Universität Oxford mit Kollegen das World Weather Attribution Project gegründet hat.
"Wir wissen sehr genau, was die Emissionen sind, die wir seit Beginn der industriellen Revolution in die Atmosphäre gelassen haben; wir wissen sehr genau, was das mit der globalen Mitteltemperatur zu tun hat", sagt Otto. "Aber was das regional ganz konkret gemacht hat, darüber gab es bislang recht wenig Forschung. Und was wir mit der Attributionsforschung machen, ist, genau das herauszufinden, wie und wie viel der menschengemachte Klimawandel – also die zusätzlichen Treibhausgase in der Atmosphäre – die Wahrscheinlichkeit für bestimmte Wetterereignisse verändert. Und wie machen wir das? Wir stellen im Prinzip die Frage: 'Was ist mögliches Wetter in dem Klima, in dem wir heute leben?' Und dann stellen wir genau die gleiche Frage und sagen: 'Okay, was ist mögliches Wetter in der Welt, wie sie ohne den Klimawandel gewesen wäre?'"

Zusammenhang zwischen Klimawandel und Extremwetter wird immer klarer

Und weil der einzige Unterschied in diesen beiden Welten die vom Menschen erzeugten Treibhausgase in der Atmosphäre sind, können die Attributionsforscher mit gewaltiger Computerpower und gestützt auf eine Fülle von Beobachtungsdaten dann ausrechnen, um wieviel Prozent sich die Wahrscheinlichkeit eines Extremwetterereignisses erhöht hat. Und das mitunter innerhalb von nur wenigen Tagen. Im Juli vergangenen Jahres, als sich die Hitze in Europa dem Höchststand näherte, sorgte eine Studie des World Weather Attribution Projects international für Furore: Sie belegt, dass der Klimawandel die Wahrscheinlichkeit für eine Hitzewelle in Dublin verdoppelt, in Utrecht verdreifacht und in Kopenhagen sogar verfünffacht hat.
"Wir haben Hitzewelle definiert als Extremtemperaturen für mindestens drei Tage", so Friederike Otto. "Und das Ereignis in Kopenhagen war ungefähr ein Sieben-Jahres-Ereignis in der Welt, in der wir heute leben. Und dann haben wir gesagt, wie wahrscheinlich wäre denn eine solche Hitzewelle ohne Klimawandel? Und im Fall von Kopenhagen wäre das ungefähr ein 35-Jahre-Ereignis gewesen. Also aufgrund des Klimawandels hat sich die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten einer solchen Hitzewelle verfünffacht."
Ein Junge im rotkarierten Hemd kämpft sich mit seinem Fahrrad durch eine überschwemmte Straße in Honduras. .
Überschwemmung in Honduras: Welchen Anteil der Klimawandel an solchen extremen Wetterereignissen hat, lässt sich immer genauer feststellen.© imago
Friederike Otto arbeitet eng mit dem Deutschen Wetterdienst zusammen, der bei extremen Wetterereignissen demnächst routinemäßig Attributionsstudien durchführen will. Interesse haben auch Hilfsorganisationen wie das Internationale Rote Kreuz oder Oxfam. Und vor kurzem hat das neuseeländische Finanzministerium einen Bericht herausgegeben, welche Schäden innerhalb der vergangenen zehn Jahre Extremwetterereignissen zuzuordnen sind und wieviel sie den Staat gekostet haben. Auch in England – dem Mutterland der industriellen Revolution – werden die Forschungsergebnisse beherzigt: Seit 2012 ist die Nutzung von Kohleenergie um mehr als 80 Prozent gefallen. "Geht doch!", lautet die Botschaft – die in Berlin jedoch noch nicht wirklich angekommen zu sein scheint.

"Die Gesetze der Physik sind nicht verhandelbar"

"In Deutschland ist das vor allen Dingen das Thema einer Partei – leider – und in den anderen Parteien als wirklicher gesellschaftlicher Auftrag des 21. Jahrhunderts noch nicht verstanden worden", sagt der Physiker Carl-Friedrich Schleussner. Er leitet das Klimafolgen-Team des unabhängigen Forschungsinstituts Climate Analytics, das unter anderem auf die klimawissenschaftliche Politikberatung von Inselstaaten spezialisiert ist.
"Diese Länder sind da deutlich weiter in ihrem Denken und auch in ihren Strategien. Aber wir haben halt auch schon 1 Grad Erwärmung. Und wir sehen, dass diese 1-Grad-Erwärmung uns schon ganz schön zu schaffen macht. Das, was wir in diesem Sommer gesehen haben, ist, dass wir ein Anpassungsdefizit in Deutschland haben. Aber die Temperaturen sind erwartbar. Das ist halt der wissenschaftliche Sachverhalt. Und die wirklich zentrale Besonderheit des Klimaproblems ist, dass die Gesetze der Physik nicht verhandelbar sind. Das heißt, viele andere Dinge, da werden die gesellschaftlichen Perspektiven möglicherweise verschieden sein, und das auch zu gutem Recht sicherlich. Aber auf die Frage, wie wir gefährlichen Klimawandel vermeiden können, gibt es eben nur die Antwort: Emissionen reduzieren. Ja, und das ist dann eben doch leider ein ganz simpler Sachverhalt."
Wissenschaftliche Evidenz gewinnt nicht nur als Waffe gegen politische Ignoranz zunehmend an Bedeutung, sie ist auch vor Gericht unverzichtbar. Sowohl für die EU-Klage in Straßburg als auch bei der Klage vorm Berliner Verwaltungsgericht hat Climate Analytics auf tausenden Seiten den wissenschaftlichen Nachweis erbracht, wie und in welchem Ausmaß die einzelnen Kläger vom Klimawandel betroffen sind.
"Das ist auch für mich ein Präzedenzfall", betont Carl-Friedrich Schleussner. "Was mich persönlich reizt und interessiert, ist zu zeigen, welches Bedrohungsszenario eine Gemeinde oder ein Betrieb oder ähnliches hat und auf welchen teilweise vielfältigen Wirkungskanälen Klimawandel das beeinflusst. Ein Milchbauer in Brandenburg, der seine Kühe nicht mehr aufs Feld lassen kann, weil es zu heiß ist, aber gleichzeitig wegen der Dürre zu wenig Futter hat. Oder zu sagen: Das, was die Familie Recktenwald für sich beschreibt als Bedrohungsszenarium, das ist auch wissenschaftlich gedeckt."

Wir sind viele, sagt die Klägerin

Wie jeden Morgen geht Maike Recktenwald durch den Frühstückraum ihres Hotels und begrüßt die Gäste. Ihre Familie lebt seit fünf Generationen auf Langeoog.
"Ich möchte hier bleiben", sagt Maike Recktenwald. "Ich habe keinen Ort auf der Welt gesehen, der mich neugierig macht zu schauen, ob er denn schöner sein könnte als hier. Für mich ist es der schönste Ort auf der Welt."
Und sie möchte, dass auch die nächste Generation bleiben kann. Dafür klagt sie vor dem Europäischen Gericht in Straßburg. Der eine oder andere hat sie deshalb auch schon mal als Spinnerin bezeichnet. Dennoch sieht sich Maike Recktenwald keineswegs als Einzelkämpferin:
"Ich kann mir natürlich die angucken, die mich nicht unterstützen. Aber es macht viel mehr Spaß, die anzugucken, die einen unterstützen, die in die gleiche Richtung denken. Und das Schöne ist, dass es da tatsächlich viel mehr Menschen von gibt, als man dachte – von kleinen Organisationen, von Privatmenschen, dass ich mit Gästen ins Gespräch komme. Und diese ganzen kleinen Gespräche, die machen einem einfach Mut, dass wir wahnsinnig viele sind. Also liebe Politik, zieh dich warm an! Ich glaube, ihr unterschätzt uns."
Mehr zum Thema