Buchpendant zu Bubikopf und Charleston

Von Helmut Böttiger · 03.06.2005
Irmgard Keun war die Judith Hermann der 20er Jahre. Sie traf den Ton ihrer Generation. Das Bewusstsein einer Krise und das Gefühl, das Beste daraus machen zu müssen. In "Das kunstseidene Mädchen", das in der Originalfassung von 1932 im Claasen Verlag erscheint, wird der Mythos der Metropole Berlin in der Weimarer Republik lebendig.
Irmgard Keun war das Fräuleinwunder der Weimarer Republik. Im Alter von 26 Jahren hatte sie im Jahr 1931 mit dem Romandebüt "Gilgi – eine von uns" einen Sensationserfolg, und "Das kunstseidene Mädchen", ihr alles überragendes Buch, folgte ein Jahr später. In vieler Hinsicht war sie die Judith Hermann ihrer Zeit: Sie traf den Ton einer neuen Frauengeneration, etwas Beschwingtes und doch zugleich Melancholisches; da war das Bewusstsein einer Krise und das Gefühl, das Beste daraus machen zu müssen. Irmgard Keun schuf das literarische Pendant zum Bubikopf und zum Charleston.

"Das kunstseidene Mädchen" handelt von Doris, einem Mädchen aus der Unterschicht, das aufsteigen möchte. Sie möchte, wie sie es ausdrückt, "ein Glanz werden". Dabei fallen Namen wie derjenige von Marlene Dietrich – was "Glanz" für Doris ist, weiß sie aus dem Kino. Sie will aus ihrem tristen Leben als Sekretärin eines schmierigen Rechtsanwalts aussteigen und weiß, dass ihr einziges Kapital ihre erotische Ausstrahlung ist. Das neue Leben beginnt mit einer Statistenrolle im Theater ihrer Heimatstadt. Dort stiehlt sie einen Pelzmantel und flieht mit ihm nach Berlin, um in der Hauptstadt das Glück zu machen. Dass das, im Zeichen der Wirtschaftskrise und der Arbeitslosigkeit Anfang der dreißiger Jahre, nicht gelingt, ist klar – und das wird durch mehrere Männerbekanntschaften immer deutlicher.

Das Bemerkenswerte an diesem Buch ist der schnoddrige, lebendige Ton. Wir erleben alles aus der Ich-Perspektive der Hauptfigur Doris, fast wie in mündlicher Rede, doch diese scheinbar mündliche Rede ist äußerst kunstvoll inszeniert. Die Naivität, mit der Doris an die Dinge herangeht, ist eine ziemlich raffinierte, und sie zeigt sich auch recht erfindungsreich im Bewältigen schwieriger und auch grotesker Situationen. Völlig unsentimental, fast karikaturhaft ziehen spezifische Männercharaktere an uns vorbei, und es ist vor allem der unverwechselbare Sound, der Witz und das Gefühl, was den Leser an diesem Roman fesselt.

Irmgard Keun wurde erst Anfang der 80er Jahre, kurz vor ihrem Tod, wiederentdeckt, und ihre Biographie war dazu angetan, sie zur Legende zu machen. Nach der Machtergreifung durch die Nazis 1933 ging sie in die Emigration, verbrachte eine turbulente, fast selbstzerstörerische Zeit mit Joseph Roth in Ostende, und als sie sich 1940 völlig mittellos in London befand, fasste sie den Entschluss, unter einem anderen Namen in Nazideutschland unterzutauchen. In der frühen Bundesrepublik war ihr großer Ruhm dann längst vergessen, und sie konnte an die Erfolge nicht mehr anknüpfen.

Der Claassen Verlag bringt "Das kunstseidene Mädchen" nun in der Originalfassung von 1932 heraus – die Nachkriegsausgabe von 1951, die bisher gebräuchlich war, hatte vieles vom erfrischenden, unkonventionellen Ton des Buches zurückgenommen. Es ist ein fast reportagehafter Realismus, der aber durch die hautnahe Ich-Perspektive eine literarische Eigendynamik gewinnt. Der Mythos der großen Metropole Berlin aus der Weimarer Republik wird hier so lebendig wie fast nirgendwo sonst.