Buchautorin Helge-Ulrike Hyams

"Jedes Kind trägt sein eigenes Mosaik in sich"

Schierke (Sachsen-Anhalt): Die beiden zweijährigen Jungen Max (l.) und Albert freuen sich über den Winter.
S wie "Schnee" - für die meisten Kinder das pure Glück. © picture alliance / dpa / Matthias Bein
Helge-Ulrike Hyams im Gespräch mit Joachim Scholl · 06.02.2018
26 Buchstaben beschreiben das Universum: In ihrem Buch "Das Alphabet der Kindheit" spürt Helge-Ulrike Hyams von A wie "Atmen" bis Z wie "Zaubern" der Entwicklung des Kindes nach - mit all der damit verbundenen Neugier, Freude, Trauer oder Angst.
Die Erziehungswissenschaftlerin und Psychoanalytikerin Helge-Ulrike Hyams hat vor kurzem das Buch "Das Alphabet der Kindheit - von A wie Atmen bis Z wie Zaubern" veröffentlicht. Es ist ein Sachbuch, in dem Hyams dem Zauber der Kindheit nachspürt. Der herausgebende Verlage bezeichnet es als "Hausbuch" und im Vorwort steht, es sei eine "eigensinnige" und "subjektive" Sammlung kurzer Texte zu diversen Themen rund um das Thema Kindheit, die in der "unerschütterlichen" Struktur des Alphabets gesammelt sind.
Die Pädagogin und Buchautorin Helge-Ulrike Hyams zu Besuch im Deutschlandradio-Funkhaus in Berlin.
Die Pädagogin und Buchautorin Helge-Ulrike Hyams zu Besuch bei "Lesart".© Deutschlandradio/Maurice Wojach

Ein großes Puzzle

Es sei eine "freudige Sammlung", sagt die Autorin.
"Es wurde mit viel Freude geschrieben. Der Inhalt ist nicht nur freudig, der Inhalt umfasst wirklich das ganze Universum des Kindes. Ich vergleiche es manchmal mit einem großen Mosaik oder einem großen Puzzle mit vielen einzelnen Bereichen, vielen Bestandteilen. Und jedes Kind trägt sein eigenes Mosaik in sich."
Was Hyams darunter versteht, warum sie S wie "Schnee" besonders liebt und warum sie die Begegnung mit Sir Simon Rattle so berührt hat, verrät sie im Gespräch mit Moderator Joachim Scholl.
(mkn)

Helge-Ulrike Hyams: "Das Alphabet der Kindheit. Von A wie Atmen bis Z wie Zaubern"
Berenberg Verlag, 2017, 448 Seiten, 29 Euro


Das Interview im Wortlaut:

Joachim Scholl: Helge-Ulrike Hyams ist Jahrgang 1942, mit einem langen, erfolgreichen Berufsleben als Psychoanalytikerin und Erziehungswissenschaftlerin. Die Kindheit mit all ihren Schattierungen ist ihr großes Lebensthema. Neben vielen wissenschaftlichen Schriften hat Helge-Ulrike Hyams in Marburg ein Kindheitsmuseum gegründet und lange geleitet, eine eigene Sammlung von deutsch-jüdischen Kinderbüchern angelegt, die mittlerweile im Leo-Beck-College in London angesiedelt ist, und jetzt gibt es wieder eine Art Sammlung von Helge-Ulrike Hyams, "Das Alphabet der Kindheit", so heißt ihr neues Buch. Willkommen in Deutschlandfunk Kultur, Frau Hyams!
Helge-Ulrike Hyams: Danke für die Einladung!
Scholl: Sie haben viele Schriften, Artikel, Bücher über Kinder und Jugendliche verfasst in Ihrer akademischen Laufbahn. Dieses sehr opulente Buch wirkt wie eine leicht und freudig geschriebene Summe Ihrer beruflichen Ansichten über ein ganzes Leben lang. Würden Sie dem zustimmen?
Hyams: Ja, eine freudige Sammlung auf jeden Fall. Es wurde mit viel Freude geschrieben. Der Inhalt ist nicht nur freudig, der Inhalt umfasst wirklich das ganze Universum des Kindes. Ich vergleiche es manchmal mit einem großen Mosaik oder einem großen Puzzle mit vielen einzelnen Bereichen, vielen Bestandteilen. Und jedes Kind trägt sein eigenes Mosaik in sich.

Ein Kind durchlebt die Entwicklung der gesamten Menschheit

Scholl: Wie kam es denn zu diesem Buch in dieser Form des Alphabets?
Hyams: Dieses Mosaik zu ordnen, war nicht leicht. Es sollte ja kein Puzzlebuch werden. Das Alphabet gibt mir eine sehr gute Struktur, es bildet quasi das Rückgrat für das Buch. Und wenn das Rückgrat solide ist, trägt, dann kann ich mir die Freiheit nehmen, in alle Richtungen wie ein Baum mit Ästen oder Zweigen, in alle Richtungen der einzelnen Themen zu gehen, die ja sehr unterschiedlich sind.
Scholl: Gleich am Anfang, Frau Hyams, formulieren Sie, dass sich in der Kindheit "das Wunder der Wiederholung der Menschheitsgeschichte" abspielen würde. Erklären Sie uns mal diesen Gedanken?
Hyams: Das ist ein Satz schon aus der Einleitung, der das Ganze wie ein roter Faden durchzieht, eigentlich ein ganz einfacher Satz: Dass jedes Kind, das auf die Welt kommt, gleichsam noch mal durchlebt, was die Menschheit als Ganzes durchlebt hat. Erst das Vorsprachliche, das Leben ganz ohne Sprache. Dann lernt es die Worte, dann lernt es den menschlichen Gang, was extrem wichtig ist. Dann lernt es das Denken – alle Stadien durchlebt es langsam.
Scholl: 131 Einträge habe ich gezählt, Frau Hyams, die verteilen sich über die 26 Buchstaben. Es fällt schwer, hier Beispiele auszusuchen, aber einige Abschnitte, haben Sie uns schon erzählt, liegen Ihnen besonders am Herzen, zum Beispiel beim Buchstaben S der Eintrag Schnee. Ich musste mich da spontan an meine Kinderzeit erinnern, selige Winternachmittage, Schlittenfahren, Schneemannbauen – was bedeutet denn Ihrer Meinung nach Schnee für ein Kind oder vielleicht auch für Sie selbst?

"Schnee, das Kindchenschema der Natur"

Hyams: Schnee ist für mich das reine Glücksgefühl auch. Wir denken mal nicht an die Leiden, die auch damit verbunden sein können. Ich sage Ihnen nur das Motto: "Das Erfahrungsgedächtnis spült schöne Bilder hoch. Eines davon ist der Schnee, das Kindchenschema der Natur."
Scholl: Das Kindchenschema der Natur …
Hyams: Das Kindchenschema der Natur, ein Satz von Michael Stössinger, den ich im "Stern" entdeckt habe, in einer Zeitschrift. Das hat den Anlass gegeben, ein ganzes Kapitel über dieses Kindchenschema der Natur zu schreiben.
Scholl: Haben Sie das auch noch erlebt in Ihrer Kindheit, sozusagen dieses verträumte Im-Schnee-sein?
Hyams: Ja … Nicht enden wollende Nachmittage.
Scholl: Vor allem aber auch, ist mir noch eingefallen, war es auch so eine herrliche Zeit des Unbeaufsichtigtseins. Wir waren den ganzen Nachmittag weg. Heute würde man denken, da sagt die Mutter, pass nur auf, dass dein Handy nicht aus dem Anorak fällt.
Hyams: Oder es ist ein Aufpasser dabei, ein Erwachsener dabei. Nein, diese Nachmittage, auch verkehrstechnisch, gibt es natürlich nicht mehr, oder jedenfalls bei uns nicht.

Den Bogen von Vater Abraham finden

Scholl: Sie sagten vorhin, es ist eine große Mischung zwischen ernst und heiter auch, Ihr Buch, also die Einträge. Ein sehr ernster ist, beim O habe ich den gefunden, nämlich O wie "Opfer". Ich muss sagen, dass ich sofort die böse Assoziation hatte von "Du Opfer!", wie es mittlerweile so unter Kindern und Jugendlichen oft so grassiert, als böse, böse Anrede. Für Sie hat aber, Frau Hayms, das Opfer wirklich den alten biblischen Hintergrund. Erklären Sie uns diesen Eintrag.
Hyams: Ja, ganz genau. Aber da sehen wir, wie sich auch Worte ändern. Für mich hat es den biblischen Hintergrund, aber das Faszinierende ist, dass sich dieser biblische Hintergrund, der sich durch die ganze Menschheitsgeschichte – bis ins späte Mittelalter gab es noch Kinderopfer, etwa in Lateinamerika, in Mexiko –, dass dieses archaische Moment eigentlich bis heute in uns lebt. Zwar nicht mehr direkt, das Menschenopfer ist abgeschafft, das Kinderopfer, aber in der Kunst etwa, in der Kunst oder im Unbewussten auch, in den Träumen, lebt es weiter.
Was mir wichtig ist an diesem Kapitel, ist den Bogen zu spannen vom Vater Abraham und der Opferszene zu den Berliner Kindern, die das Kinderopfer, "Sacre du Printemps" mit Simon Rattle und Royston Maldoom spielen, künstlerisch spielen. Und da ist einfach wichtig der letzte Satz, damit am Ende jeder begreift, nur hier auf der Bühne darf das Kinderopfer noch einmal auferstehen. Nur unter Royston Maldooms Händen, und sonst nirgendwo – nirgendwo.

Der Glücksmoment mit Sir Simon Rattle

Scholl: Das ist eine ganz interessante Spanne, die man gar nicht, glaube ich, von allein so schlagen kann, diesen Boden so schlagen kann, also sozusagen zu Sir Simon Rattle. Stimmt es, dass Sie ihm sogar selbst mal davon erzählen konnten, von diesem Opfergedanken, dass Sie ihn getroffen haben?
Hyams: Ja, Herr Scholl. Das war ein Glücksmoment, das war wie ein Kinderglücksmoment. Ich traf Simon Rattle im Zug, gerade auf dem Weg, als mein Buch herausgekommen war, mit einem einzigen Exemplar in der Hand und in der Tasche, und ich habe es ihm geschenkt.
Scholl: Ach, wie nett!
Hyams: Ja. Und war froh, dass er in dem "Alphabet der Kindheit" war.
Scholl: Und haben Sie ihm von diesem Opfergedanken erzählt, vom "Sacre du Printemps"?
Hyams: Ja, ich habe ihm das vermittelt. Also die Verbindung, warum ich ihm das ...
Scholl: Ich hab bei diesem Kapitel sofort an meine Erfahrung denken müssen, als ich, als Kleinkind, aus der Kinderbibel diese Geschichte vorgelesen bekommen habe, von Abraham und Isaak. Und ich muss sagen, im Nachhinein, es ist da der Keim des Atheismus in mich gelegt worden, weil ich so schockiert war, dass ein Gott so gemein und grausam sein kann, dass er einen Vater auffordert, ein Kind zu schlachten. Das muss doch, glaube ich, in einer Kinderpsyche – also bei mir hat es wirklich, glaube ich, ganz schlimm gewirkt.
Hyams: Absolut. Das ist auch eine der zentralsten Stellen auch der Menschwerdung. Es wurde ja am Ende nicht das Kind geschlachtet. Allerdings die Tiere, was schlimm genug ist auch.
Scholl: Dann kommen wir jetzt vom Ernsten wieder ins Schöne, Luftige, Heitere vielleicht, zum Buchstaben "T" wie "Tanzen". Was ist Ihnen daran so wichtig, und was ist das für ein Gedanke, dass Kinder gern tanzen?
Hyams: Tanzen steht ja auch für innere Bewegung, ist eine Einheit von innerer und äußerer Bewegung. Dies war eine unmittelbare Szene bei einem Jazz-Festival in Nordfrankreich, und ganz auffällig, ein einziges Kind tanzt, und ein Kind mit Down-Syndrom, das das wagt, diesen Schritt, öffentlich einfach so loszutanzen.
Ja, und mein Gedanke ist, warum tanzen nicht mehr, warum zügeln wir uns alle, warum drehen wir uns nicht unentwegt, wie auch in dem Motto steht: Ein Derwisch sagt, wir drehen uns unentwegt. Ich kann nicht verstehen, wie man sich nicht drehen kann. So geht es mir auch oft. Ich kann nicht verstehen, warum Menschen sich nicht viel mehr drehen und bewegen.

"Die zivilisierte Welt tanzt nicht auf der Straße"

Scholl: Aber vielleicht ist das auch, Ihrem ersten Gedanken zufolge, dieser Geschichte der Menschheitswerdung – irgendwann wird das Kind erwachsen, und es wird ernst, und Tanzen ist dann vielleicht, widerspricht dann diesem Stadium der Menschheitswerdung. Oder kommen wir vielleicht wieder dahin, wenn wir alt werden? Was meinen Sie?
Hyams: Die zivilisierte Welt tanzt einfach nicht auf der Straße. Ja, vielleicht muss man wieder ganz alt werden, um wild zu tanzen.
Scholl: Frau Hyams, ich kann Sie aber nicht ziehen lassen hier aus unserem Studio ohne ein letztes Wort, ebenfalls zum Buchstaben T. Sie schreiben auch über den Teddybär. Und ein solcher Bär war die Liebe meiner Kindheit. Er hieß Bummel. Und unvergessen ist der Schmerz, als Bummel gehen musste, weil ich nämlich hochallergisch auf ihn war. Ich bekam immer Ausschlag, und meine Eltern wussten nicht ein noch aus, bis dann festgestellt wurde, dass Bummel der Erreger war. Dann war Bummel weg.
Also, mir kamen fast die Tränen bei Ihrem Artikel wieder. Jetzt müssen Sie aber trotzdem mal erklären. Wie kommt das, dass der Bär so unangefochten zeitlos der Star unter den Kuscheltieren ist und geblieben ist. Keines ist beliebter. Was ist mit dem Bären?
Hyams: Ja, der Bär … Das Originaltier, das reale Tier war dem Menschen immer sehr nahe. Es gab ja die alten Bärenkulte, wo die Baby-Bären von Menschen aufgezogen wurden, ein Jahr sehr liebevoll mit Milch gefüttert wurden, und am Ende dieser Frist, vielleicht um ein Jahr, feierlich geschlachtet, geschmückt erst durchs Dorf getrieben und dann geschlachtet wurden. Also, die Nähe zum Bären ist extrem stark. Und dann das Äußere: Es hat halt auch eine menschliche Gestalt, man kann ihn hinstellen. Da ist ein Geheimnis, um den Bären ist ein Geheimnis, das jedes Kind, glaube ich, für sich neu definieren oder lüften muss.
Scholl: Hatten Sie auch einen Teddybären?
Hyams: Und wie!
Scholl: Und der hieß? Können Sie sich noch an den Namen erinnern?
Hyams: Nein, der hieß nur Teddy.
Scholl: Der hieß nur Teddy.
Hyams: Der hieß nur Teddy. Das gibt es bei vielen Kindern.
Scholl: Vielen Dank, Frau Hyams, dass Sie bei uns waren. Das "Alphabet der Kindheit" von Helge-Ulrike Hyams – wenn Sie jetzt ihren Nachnamen nachschlagen, mit Y schreibt der sich, A u M am Ende … Helge-Ulrike Hyams. Das Buch ist jetzt im Berenberg-Verlag erschienen – Berenberg aber nicht mit ä, sondern mit e – hat 448 Seiten und kostet 29 Euro.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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