Buch über Chantal Akerman

Sie hat die Kamera vom Voyeurismus befreit

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Chantal Akerman als 18-Jährige in der Küche – eine Szene aus ihrem ersten Film "Saute ma ville"
Debüt in der Küche, ausgelassen und voller Melancholie: Chantal Akerman in ihrem ersten Film "Saute ma ville" aus dem Jahr 1968. © picture alliance/Collection Christophel
Tine Rahel Völcker im Gespräch mit Massimo Maio · 08.06.2020
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Mut zur Verletzlichkeit und Frauenporträts mit Witz und Würde zeichnen das Kino von Chantal Akerman aus. Fünf Jahre nach dem Tod der belgischen Filmemacherin hat Tine Rahel Völcker ihrem einflussreichen Schaffen ein Buch gewidmet.
Ihren ersten Film drehte sie in der Küche ihrer Eltern. 1968 war Chantal Akerman gerade 18 Jahre alt, hatte die Ausbildung an der Filmakademie aber bereits nach wenigen Wochen abgebrochen, weil es ihr dort zu autoritär zuging, und produzierte ihr Debüt auf eigene Faust: "Saute ma ville", zu Deutsch etwa "Fliege hoch, meine Stadt", erzählt von einer jungen Frau, verkörpert von Akerman selbst, die übermütig durch ihr Leben tanzt aber zugleich von einer tiefen Traurigkeit verfolgt wird, die sie schließlich in den Selbstmord treibt.

Ihre Kino-Experimente blieben ein Geheimtipp

Auf ganz eigene Weise verband Chantal Akerman in ihren Filmen Kino mit bildender Kunst, Dokumentation mit Experiment. Regisseure wie Michael Haneke und Gus Van Sant zählen sie zu den prägenden Inspirationsquellen für ihr eigenes Schaffen. Trotzdem ist Akerman hierzulande über Fachkreise hinaus kaum bekannt geworden.
Sie selbst sei erst durch Nachrufe auf die belgische Filmemacherin aufmerksam geworden, gesteht Tine Rahel Völcker, die als Autorin für Theater und Hörspiel schreibt. 2015 nahm Chantal Akerman sich das Leben. Völcker tauchte in die Welt ihrer Filme ein und war auf Anhieb fasziniert - vor allem von der Art und Weise, wie Akerman Frauen in ihren Filmen präsentierte.

Nähe ohne Voyeurismus

Sie habe den Kamerablick vom Voyeurismus befreit, indem sie Menschen ganz direkt, en face aufnahm, erklärt Tine Rahel Völcker, "so dass der Kamerablick von den Personen, die gefilmt werden, kommentiert werden kann." Dadurch könne das Machtverhältnis der Aufnahmesituation unterlaufen werden, so Völcker.
Besonders deutlich sei das geworden, wo Akerman sich selbst gefilmt habe, "weil sie sich mit all ihrer Verletzbarkeit zeigt, mit ihren Zweifeln und all dem, wovon man eigentlich von früh auf lernt, dass man es verbergen sollte." Dieser Konvention habe sich Chantal Akerman vor der Kamera mit "Schönheit und Würde und Komik" stets widersetzt.

Alles begann mit dem Schweigen der Mutter

Völckers Buch erzählt vom Leben und Werk Chantal Akermans – aber es ist keine klassische Biografie, sondern ein sehr literarisches Buch. Völcker beschreibt darin eine Reise in den Ort Tarnów im heutigen Polen.
Dort wurde Akermans Mutter geboren – eine Auschwitz-Überlebende. Ihre Geschichte wurde für Akerman ein Anstoß für ihr filmisches Schaffen.
Akerman selbst habe immer gesagt, dass das Schweigen ihrer Mutter, das Ungesagte, die Leerstelle, der Antrieb für all ihr Arbeiten gewesen sei, erzählt Völcker: "Dann war für mich klar: Wenn das der Antrieb für ihr Arbeiten war, und ich darüber schreiben will, dann will ich diesen Ort sehen, der vielleicht auch vor diesem Schweigen liegt, und vor dem Holocaust."
(fka)

Tine Rahel Völcker: Chantal Akermans Verschwinden. Les Rendez-vous de Tarnów
Spector Books, Leipzig 2020
159 Seiten, 18 Euro

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