Buch der Woche

Der Terror des Vaters

Von Peter Urban-Halle · 26.01.2014
"Spielen" ist der dritte Band von Karl Ove Knaugårds großem autobiografischen Projekt "Min kamp" (Mein Kampf). In einer eigenartigen, zugleich unterhaltsamen und reflektierenden Art schildert er Kindheit und Jugend unter einem unberechenbaren Vater.
Diesmal fängt es an wie ein Roman: "An einem milden und wolkenverhangenen Tag im August 1969 fuhr auf einer schmalen Straße am äußeren Ende einer südnorwegischen Insel (…) ein Bus." Eine kleine Familie steigt aus. Auf Tromøya tritt der Vater eine Stelle als Grundschullehrer an und wird die Mutter als Krankenpflegerin arbeiten. Mit dabei: ihre zwei Jungen, Yngve, viereinhalb Jahre, und Karl Ove, acht Monate alt. Der Kleine schlummert, die jungen Eltern stöhnen über das schwüle Wetter, der ältere Sohn erkundet das neue Haus.
Etwa vierzig Jahre später erzählt Karl Ove, mittlerweile ein erwachsener Schriftsteller, die Geschichte seines Lebens, auch die Ankunft auf der Insel. Die Eingangsszene muss er erfunden haben, erinnern kann er sich naturgemäß nicht an sie. Aber selbst die Dinge, an die man sich erinnert oder zu erinnern meint, müssen nicht unbedingt so gewesen sein. "Das Gedächtnis ist keine verlässliche Größe", da "für das Gedächtnis nicht die Wahrheit am wichtigsten ist."
Knausgård stellt sich damit einen Freibrief aus, was überraschend ist, denn der Clou und nicht zuletzt der riesige Erfolg seines Werks besteht ja gerade darin, dass er nichts erfunden haben will. "Was interessiert mich ein Roman mit Leuten, die es nie gegeben hat?", sagte er im Gespräch.
Packende Prosa, die zu großen Fragen zwingt
Aber es sind genau diese Widersprüche, Erkenntnisse, Anregungen, es ist genau diese Mischung aus manchmal banal erscheinenden Passagen und existentiellen oder philosophischen oder künstlerischen Reflexionen, die seine Autobiografie so einzigartig sein lassen. Die Macht seiner Prosa besteht darin, dass wir fast gezwungen sind, uns großen Fragen zu stellen: Was ist Tod? Was Erinnerung? Arbeit? Liebe? Genau das ist das Packende an Knausgårds Büchern. Wir lesen sie nicht, weil wir wissen wollen, wie es weitergeht.
Was äußerlich geschieht, ist deshalb schnell erzählt: das geregelte Leben in den siebziger Jahren, das Herumstreifen im Wald mit den Freunden, das Zündeln mit Streichhölzern, das aufkeimende Interesse für Mädchen. Allerdings ist jedes sorglos erscheinende Spiel von maßloser Angst geprägt: vor Hunden, vor unheimlichen Wesen, vor der "Dunkelheit im Licht", vor allem aber vor dem Vater, diesem so charismatischen wie unberechenbaren, cholerischen, zuweilen sadistischen Einzelgänger.
So wie Hunde angeblich riechen, wenn man Angst hat, so vermag dieser Mann zu riechen, wenn der Sohn etwas ausgefressen hat. Obwohl Karl Ove die Kindheit als Fest empfindet, denkt er wegen der Willkür des Vaters sogar an den Tod. Er hätte sich das Leben genommen, "wenn die Mutter nicht gewesen wäre". Durch sie "wurde Vaters Finsternis ausgeglichen". Aber reicht das aus? Diese bittere Frage stellt er auch.
Sein ganzes Verhalten scheint mit diesem übermächtigen Vater zu tun zu haben, seine Naivität, sein Strebertum, seine Heimlichtuerei, seine Schüchternheit, sein Minderwertigkeitskomplex, sein ständiges Weinen. In diesem dritten Band wird klar, warum das Hauptthema des ersten Bandes der Tod des Vaters war. Erst mit diesem Tod konnte er sich frei fühlen.

Karl Ove Knausgård: Spielen
Aus dem Norwegischen von Paul Berf
Luchterhand Verlag, München 2013
573 Seiten, 22,99 Euro

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