Brutalität und Erbarmen

15.04.2013
Henning Ritter schreibt über die Geistesgeschichte der Grausamkeit im 19. Jahrhundert – und über die Gegenkraft: das Mitleid. Dabei konfrontiert er Entwicklungen in der Moralphilosophie mit historischen Tatsachen.
"Die Schreie der Verwundeten" beginnt mit einem Großmeister der Grausamkeit: Robespierre. Er steht für den Terror aus gnadenlosem Idealismus, den blutigen revolutionären Puritanismus. Henning Ritter zeigt, wie der Historiker Jules Michelet das Mitleid in die Geschichte der Französischen Revolution wieder einführte, indem er den ermordeten König als erbarmungswürdige Gestalt darstellte: "Dies ist ein Mensch." Der Schmerz und das Mitleid seien die wahren Schlüssel zur Geschichte.

Diese Schlüssel nutzt Ritter in den sechs Beiträgen zur Geistesgeschichte der Grausamkeit im 19. Jahrhundert. Der Liberalismus Benjamin Constants, mit dem sich der zweite Essay beschäftigt, stellte nach den Exzessen der Gleichheit wieder die Individualität der Menschen in Rechnung: die Theorie einer nachrevolutionären Gesellschaft, die ohne heroischen Tugenden auskommt, deshalb aber vor Exzessen der Grausamkeit nicht gefeit ist. Gerade in unheroischen Zeitaltern entstünden perfide Mischformen aus Zivilisation und Barbarei, ökonomischem Interesse und Gewalt, Verweichlichung und Brutalität.

In Hinblick auf Tocquevilles Amerika-Schriften erörtert Ritter dann die "Ethisierung des Wohllebens" und die Ausweitung der Empathie in der Demokratie, die allerdings auch ihre blinden Flecken hatte: die Vernichtung der Indianer und die Sklavenwirtschaft. Die Abschaffung der Sklaverei ging von England aus, ein historisch beispielloser Vorgang, der in der neuen moralischen Sensibilität einer "Herren"-Gesellschaft begründet war, die im Namen der "Zivilisation" für weit entferntes Unglück empfänglich wurde.

Das klingt nach aufklärerischem Optimismus. Gerade am harschen Pessimismus Schopenhauers zeigt sich jedoch die "erstaunliche Karriere des Mitleids", das zuvor in der Philosophie ein "Aschenputteldasein" geführt hatte. Schopenhauer, als Zeitungsleser ein Sammler von Meldungen über Grausamkeiten, beschäftigte sich nicht mit der Konstruktion von staatsbürgerlichen Tugenden und gesetzmäßigen Maximen des Handelns; er nahm das Böse ins Visier – und entdeckte als seinen Kern überall die Abwesenheit von Mitleid.

Seine Mitleidsethik, von der Schulphilosophie abgelehnt, befand sich im Einklang mit der neuen Epoche: Organisierte Wohltätigkeit, Heilsarmee, Suppenküchen, Tierschutzvereine und philanthropische Institute schossen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus dem Boden. Und endlich wurden auch die Schreie der Verwundeten gehört. Henri Dunant gründete das Internationale Rote Kreuz, nachdem er auf dem Schlachtfeld von Solferino vom Elend der Verwundeten erschüttert worden war.

Die Entwicklung moralischer Ideale folgt der Logik der Erweiterung. Ritter sieht die globalisierte Einfühlungsmoral hier weniger skeptisch als noch in seinem Versuch über das Mitleid ("Nahes und fernes Unglück", 2005), auch wenn das Abschlusskapitel dunkle Akzente setzt. Es handelt von Darwin, der das biologische Leben als Schlachthaus des Werdens und Vergehens zeichnet, als Naturtheater der Grausamkeit, in dem der Mensch keinen Sonderstatus mehr hat.

Spannend ist Ritters Verbindung von Moralphilosophie und historischen Tatsachen. Die subtile Argumentation schweift unterwegs gern ein wenig ins Gelände und bringt von dort zahlreiche Einsichten und Wissensfrüchte mit. An vielen Stellen fordert Ritter die Leser zwischen den Zeilen geradezu auf, die historischen Linien weiterzuziehen; mitunter bis in die Gegenwart. Darin besteht ein suggestiver Reiz dieses klugen, mit unprätentiöser Eleganz geschriebenen Buches.

Besprochen von Wolfgang Schneider

Henning Ritter: Die Schreie der Verwundeten. Versuch über die Grausamkeit
C. H. Beck, München 2013
190 Seiten, 19,95 Euro