Bruno Latour: "Das terrestrische Manifest"

Die Menschheit hat den Boden unter den Füßen verloren

Cover des Buches "Das terrestrische Manifest" von Bruno Latour
Es geht Bruno Latour darum, "erdhaft" und gleichzeitig "welthaft" zu werden. © Suhrkamp Verlag / picture alliance / dpa
Von Andrea Roedig · 26.07.2018
Der französische Philosoph Bruno Latour fordert im "Terristrischen Manifest" ein neues Verhältnis des Menschen zur Erde. In seinem spannend zu lesenden Essay tritt er für eine Welt ein, in der das Lokale gegenüber dem Globalen an Bedeutung gewinnt.
Der Globus ist nicht groß genug für die Globalisierung, soviel sollte sich mittlerweile herumgesprochen haben, und daher bezeichnet Bruno Latour "Klima" als das einzig wirklich wichtige politische Thema unserer Zeit. Alles, was uns gegenwärtig beunruhige – sei es Migration, wachsende Ungleichheit oder Populismus – habe eine gemeinsame Wurzel in der unheimlichen Erfahrung, dass die Erde in Form des Klimawandels plötzlich auf unsere Handlungen reagiert. Die Menschheit weiß derzeit nicht, wovon genau ihr Überleben abhängen wird, sie hat den Boden unter den Füßen verloren wie Passagiere eines Flugzeugs, denen der Pilot mitteilt, dass er im Zielflughafen "Globales" nicht landen kann, aber auch der Rückweg zum Ausgangspunkt "Lokales" versperrt ist.
Ließ sich ehedem die Moderne als eine Fortschrittsgeschichte begreifen, deren Richtung durch den "Attraktor" Globales vorgezeichnet war, haben sich nun die Vorzeichen geändert: Zur positiv besetzten "Plus-Globalisierung" sei eine "Minus-Globalisierung" hinzugekommen, schreibt Latour, das ehedem als rückständig wahrgenommene Lokale gewinne eine andere Bedeutung. Dieser Vorzeichenwechsel bringe die politische Ordnung rechts/links, konservativ/progressiv ins Wanken – und tatsächlich verschiebt auch Latour in gewisser Weise die politischen Bewertungsmuster.

Endlich auf der Erde landen

Latours Manifest ist nicht nur eine Klima-Schrift, sondern auch ein Text über den Klimawandel-Leugner Donald Trump, der sich imaginär ins "Extraterrestrische" flüchtet, als gäbe es einen sicheren Ort jenseits der Erde. Die Trump-Wähler seien dabei die Betrogenen, doch Trumps Wahnsinnsgeste habe auch etwas Gutes, meint Latour, denn sie mache ex negativo einen neuen "Attraktor" für ein progressives Denken sichtbar: das "Terrestrische".
Unter diesem Begriff subsummiert Latour ein alternatives Verständnis von Natur, Wissenschaft und Ökologie, eine neue Perspektive, in der wir die Erde nicht kalt szientistisch wie von Ferne betrachten, sondern aus der Nähe, teilnehmend. Der Mensch steht hier nicht im Zentrum und er ist nicht der einzige Handelnde. Er begreift, dass die Erde selbst ein politischer Akteur ist und nimmt sie als solchen ernst. Alle Fragen der Zukunft – auch die sozialen Fragen der Umverteilung und Gerechtigkeit – werden daher geopolitische Fragen sein.
"Das terrestrische Manifest" ist ein Programmtext, in dem notwendigerweise vieles offen bleibt. Aber genau in seiner kurzen Form ist es ein gelungener, anregender und von der ersten bis zur letzten Seite spannend zu lesender Essay. War die alte Modernisierung "Flucht nach vorn", so heißt die neue Modernisierung: irgendwo landen. Darüber sollten wir Geschichten erzählen, meint Latour. Sein Text endet mit einer Eloge auf Europa, hier möchte er landen – allerdings nicht auf einem abgeschotteten Kontinent der gesicherten Außengrenzen: Es gehe darum, sich an den Boden zu binden, "erdhaft" und gleichzeitig "welthaft" zu werden.

Bruno Latour: "Das terrestrische Manifest"
Aus dem Französischen von Bernd Schwibs
Berlin, Suhrkamp Verlag 2018
136 Seiten, 14,00 Euro

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