Britta Lange: „Gefangene Stimmen“

Vielschichtige Schätze aus dem Lautarchiv

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Das Buchcover "Gefangene Stimmen" von Britta Lange ist vor einem grafischen Hintergrund zu sehen.
"Gefangene Stimmen": Britta Lange befasst sich seit vielen Jahren mit dem Lautarchiv und seiner über hundertjährigen bewegten Geschichte. © Kulturverlag Kadmos / Deutschlandradio
Von Julia Tieke · 23.07.2020
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Lieder, Erzählungen, Wortlisten: Die Historikerin Britta Lange hat die Geschichte der Tonaufnahmen von Kriegsgefangenen aus dem Ersten Weltkrieg, die im Berliner Lautarchiv lagern, aufgearbeitet – und bringt Faszinierendes ans Licht und zu Gehör.
Hören Sie mich? Natürlich, davon kann ich ausgehen. Ich rede nicht vor mich hin, sondern werde gehört. Meine Stimme ist das Gegenteil einer "gefangenen Stimme".
Die Stimmen, mit denen sich Britta Lange befasst hat, sind für sie gleich dreifach gefangen: Erstens technisch – gebannt auf Schellack und Festplatte, 1650 Aufnahmen. Zweitens institutionell – sie lagern in einem Archiv, dem Berliner Lautarchiv. Und drittens sind sie inhaltlich gefangen, denn sie stammen von tatsächlichen Gefangenen im Ersten Weltkrieg – und dienten als Sprechbeispiele für verschiedene Sprachen und Dialekte, als Anschauungsmaterial für Wissenschaftler.
In dieser linguistischen Versuchsanordnung konnten die Gefangenen nicht frei sprechen. Inhaltlich gefangen sind ihre Stimmen aber auch, weil das Gesagte nicht gehört wurde, es waren nur Sprachexempel. Persönliche Erzählungen, Fabeln oder Mitteilungen interessierten nicht.
Daher hält Britta Lange auch 100 Jahre später die Frage danach, was die Gefangenen überhaupt gesagt haben, für eine der dringendsten.

Experimentelle Herangehensweise

Die gefangenen Stimmen rumoren im Lautarchiv, sagt sie, solange sie nicht gehört und verstanden werden. Und das Rumoren sei nur dann zu verstehen, wenn man es ernst nimmt. Genau das ist ihr Programm. Britta Lange befasst sich seit vielen Jahren mit dem Lautarchiv und seiner über hundertjährigen bewegten Geschichte.
Wenn eines Tages im neu gebauten Berliner Schloss das Humboldt Forum eröffnen wird, dann wird sich auch dieses Archiv dort befinden.
Bevor es soweit ist, erschließt Britta Lange mit Buch und CD die Sammlung der Kriegsgefangenen-Aufnahmen in all ihrer Komplexität. Dazu gehören auch diese Sounds, mit denen sie das Archiv als Ort ganz konkret akustisch einführt.
Das veranschaulicht die experimentelle Herangehensweise der Forscherin. Sie macht die Stimmen der Kriegsgefangenen, die Entstehung der Aufnahmen und ihre lange Geschichte auf unterschiedliche Arten hörbar. Wir sind dabei, wenn die Stimmen in den Räumen des Archivs von den Schellackplatten erklingen. Wir hören zu, wenn eine Übersetzerin das über Kopfhörer Gehörte kommentiert.
Britta Lange verschiebt die Aufmerksamkeit darauf, dass Tonaufnahmen von technischen Voraussetzungen bestimmt sind, von institutionellen Bedingungen und ideologischen Annahmen. Sie arbeitet sich kulturwissenschaftlich durch die Sammlung, entfaltet ihr Projekt nach und nach als zeitgemäßen, kritischen, postkolonialen Umgang mit einer sensiblen Sammlung, einer "kolonialen Sammlung innerhalb des Lautarchivs" wie sie schreibt.

Von Tatarisch bis Yorkshire-Dialekt

Lieder, Erzählungen und Wortlisten in so unterschiedlichen Sprachen und Dialekten wie tunesischem Arabisch, Tatarisch oder dem Yorkshire-Dialekt stehen im Mittelpunkt, ebenso wie ihre Sprecher. Sie werden dabei nie zu Illustrationen von Theorie. Im Gegenteil: Britta Lange geht von den einzelnen Kriegsgefangenen und ihren Sprechakten aus, betreibt ein "deep listening", ein intensives Hören, und verknüpft lokale deutsche Geschichte mit derjenigen der Herkunftsländer.
Sich selbst begreift sie dabei als eine Hörerin, die nicht nur auf sprachliche Übersetzungen angewiesen ist, sondern auch auf Erläuterungen von Kontexten. Im Rahmen von Übersetzungsprozessen, die hundert Jahre und viele tausend Kilometer überbrücken, erfahren wir von den eineinhalb Millionen Männern, die England in seinen südasiatischen Kolonien im Ersten Weltkrieg einzog. Wir lernen Fragestellungen der Akustik, Sprachwissenschaft und Musikethnologie um 1900 kennen und werden mit einzigartigen historischen Quellen vertraut gemacht.
Wir lesen, dass die erste Moschee in Deutschland im Kriegsgefangenenlager bei Berlin gebaut und dort inhaftierte Muslime zum Dschihad gerufen wurden. Wir erfahren auch, wie viele Umschreibungen es im Italienischen für den Begriff "Hunger" gab, erfunden, um in Kriegsgefangenschaft die Briefzensur zu umgehen.
Britta Lange schreibt: "Die Geschichten der Anderen sind mit unseren durch das Zuhören verbunden, sie werden Teil unserer Geschichte und wir ihrer." Und sie lädt ein, ebenfalls Teil der Geschichte zu werden. Mehrfach ist die Lektüre regelrecht atemberaubend, wenn fast nebenher deutlich wird, wie viel es in der Sammlung noch zu bearbeiten gibt. Wo weiter geforscht, gehört werden könnte, sollte.

Aus Nepal in den Brandenburger Wald

Auf dem ersten und dem letzten CD-Track erklingt Gesang von Jasbahadur Rai, auf Khas mit etwas Hindi. Unsere Ohren stecken tief in der historischen Aufnahme, Britta Lange hat sie ohne weitere Bearbeitung übernommen. Jasbahadur Rai kam aus Nepal und gelangte in Kriegsgefangenschaft nach Wünsdorf. Sein Lied endet mit den Zeilen:
"Mein Körper wird klein und kleiner.
Ich öffne mich überhaupt nicht.
In dem deutschen Land
verstehen sie kein Wort
und ich wage nicht zu sprechen.
Wer ist mächtig? - Gott?
Bitte sag mir, was mächtig ist, Bruder.
Ich möchte in mein Land zurückkehren,
zu den Linden, dem Gras, den Blättern und dem Kuckuck."
Er ist nicht zurückgekehrt. Britta Lange hat herausgefunden, dass er auf dem Zehrensdorfer Friedhof begraben liegt, auch bekannt als Indian Cemetary. Mitten im Brandenburger Wald.

Britta Lange: Gefangene Stimmen. Tonaufnahmen von Kriegsgefangenen aus dem Lautarchiv 1915-1918
Kulturverlag Kadmos, Berlin 2020
400 Seiten, inklusive Audio-CD, 29,80 Euro

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