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Obdachlose in Lissabon
Zuerst in die Wohnung, dann in die Gesellschaft

Noch vor zwei Jahren lebten 800 registrierte Obdachlose in Lissabon. Ihre Zahl hat sich halbiert. Diesen Erfolg hat die Stadt Lissabon mit einem umfassendes Programm erreicht, das bisher übliche Grundsätze auf den Kopf stellt.

Von Tilo Wagner | 22.12.2017
    Ein Obdaloser schläft auf dem Boden, Lissabon, 03.07.2013
    Ein Obdachloser schläft in Lissabon auf dem Boden (AFP/ Patricia de Melo Moreira)
    Der 62-jährige Jacinto lebt seit drei Monaten in seinen eigenen vier Wänden. Der stämmige Mann mit den welligen grauen Haaren stammt von den portugiesischen Azoreninseln. Als er Ende der 90er Jahre nach Lissabon kam, verfiel er dem Alkohol und lebte auf der Straße.
    "Ich habe immer von einer eigenen Wohnung geträumt. Ich war nur einmal in einem Obdachlosenheim - und dann nie wieder. Das ist nichts für mich. Ich habe lieber im Bahnhof oder am Flughafen geschlafen, und in den kalten Winternächten habe ich mich einfach in den Nachtbus gesetzt und bin eingedöst."
    So wie Jacinto geht es vielen, erzählt Américo Nave, der vor fast 20 Jahren den Sozialverein CRESCER gegründet hat.
    Falsche Ansätze über den Haufen geworfen
    Der Verein in der Nähe des Lissabonner Hafens kümmert sich um Obdachlose und Drogenabhängige. Sucht und Obdachlosigkeit seien sehr häufig eng miteinander verbunden, sagt Américo Nave. Doch lange Zeit hätten die zuständigen Behörden einen falschen Ansatz verfolgt: "Es gibt die Vorstellung, dass die Obdachlosen zuerst beweisen müssen, dass sie selbständig leben können, bevor sie eine eigene Wohnung zugeteilt bekommen. Aber weil sie das auf der Straße nicht schaffen, müssen sie jahrelang warten oder sterben sogar, bevor sie die Wohnung kriegen."
    Der Verein "Crescer" hat dieses Prinzip umgedreht. Zuerst bekommen die Obdachlosen eine ganz normale Wohnung zugeteilt, und dann erhalten sie in ihren eigenen vier Wänden die nötige Unterstützung, um sich von ihrer Sucht und anderen psychischen oder körperlichen Erkrankungen zu befreien. "Housing First" heißt dieses Konzept, und es wird in Lissabon seit 2013 umgesetzt. Die treibende Kraft dahinter war der damalige Bürgermeister und heutige Premierminister António Costa, der während eines großangelegten Rehabilitierungsprogramms sein Büro mitten in ein Lissabonner Problemviertel verlegt hatte: "Der Bürgermeister kam jeden Morgen an hoffnungslosen Fällen vorbei: an Obdachlosen, die keine der herkömmlichen sozialen Hilfsleistungen in Anspruch nahmen und sich praktisch aufgegeben hatten. Der Druck, in Lissabon etwas für diese Menschen zu tun, kam also von ganz oben. Costa fragte: Mal angenommen, wir hätten unbegrenzte finanzielle Möglichkeiten: wie können wir dann diese Leute von der Straße holen?"
    Der zentrale Faktor Geld
    Über unbegrenzte Finanzmittel verfügt Lissabon natürlich auch heute nicht, aber immerhin: 27 Wohnungen für Langzeit-Obdachlose sind bereits angemietet worden, und der Finanzierung von weiteren 25 Appartements hat die Stadt gerade zugestimmt. Der Erfolg spricht für sich: Die Rückfallquote von 13 Prozent ist sehr viel geringer als bei allen anderen sozialen Projekten. Und das liege vor allem an der natürlichen Integration der ehemaligen Obdachlosen in ihre neue soziale Umgebung, glaubt Projektleiterin Rita Marques. "Die Menschen, die im Obdachlosenheim wohnen, integrieren sich nicht. Sie haben keinen Kontakt zu den Nachbarn. Als wir der Stadt das Projekt "Housing First" vorgestellt haben, boten uns die Verantwortlichen einen großen Wohnblock an mit vielen Apartments. Das haben wir aber abgelehnt. Wir wollten kein neues Ghetto schaffen mit dem Stigma: ‚Hier wohnen die Ex-Obdachlosen.‘"
    Die portugiesische Regierung will die Idee nun landesweit aufgreifen, um Obdachlosen in anderen Städten eine Chance zu geben. Der Bedarf ist groß. In der Finanz- und Staatsschuldenkrise sind viele ehemalige Obdachlose wieder auf der Straße gelandet.
    Jacinto trinkt seit ein paar Monaten nicht mehr und hat wieder Kontakt zu seinen Kindern auf den Azoren aufgenommen. Außer einem jüngeren Bruder hat er niemandem davon erzählt, dass er all die Jahre in Lissabon auf der Straße gelebt hat. Jetzt, mit einer eignen Wohnung, schmiedet er bereits Pläne, seine Familie endlich nach Lissabon einladen zu können.