Brillant und bedrückend

20.06.2011
Gerne erzählt die US-Autorin Joyce Carol Oates von zerstörerischen Leidenschaften, von der dunklen Seite der Menschen und vom Leben mit Scham und Schuld. 19 bisher nicht ins Deutsche übersetzte Stücke der Vielschreiberin sind nun unter dem Titel "Die Lästigen. Eine amerikanische Chronik in Erzählungen" erschienen.
Eine Provinzschönheit verliert die Lust am Leben und haut ab, kurz vor ihrer Hochzeit. Eine Ehefrau will sich rächen an ihrem Mann, blutig rächen, wegen einer banalen Kränkung. Eine Mutter erschießt ihre drei Kinder, weil sie ihren neuen Lover nicht verlieren will. Die Hauptfiguren in diesen Geschichten von Joyce Carol Oates, zumeist Frauen, handeln impulsiv und unberechenbar. Etwas lauert in ihnen, das jederzeit ausbrechen kann.

19 bisher nicht ins Deutsche übersetzte Erzählungen hat die Herausgeberin Gabriela Jaskulla gemeinsam mit Joyce Carol Oates ausgewählt für diesen Band der "Anderen Bibliothek". Der früheste Text stammt aus dem Jahr 1963, der jüngste ist 1999 erschienen. Die Auswahl muss schwierig gewesen sein bei dem riesigen erzählerischen Werk der 73-jährigen amerikanischen Autorin. Nach ihrer eigenen Schätzung hat sie an die 400 Kurzgeschichten geschrieben, neben ihren sechzig Romanen, ihren vielen Essays, Gedichten und Dramen. Die Geschichten zeigen, welche Klasse diese Erzählerin hat, trotz ihrer fast unheimlichen Produktivität.

"White Trash" heißt einer der Texte über eine magere Drogensüchtige, über den Rand der Gesellschaft, von dem eine ganze Reihe dieser Erzählungen berichten. Viele der Figuren von Joyce Carol Oates kommen allerdings aus dem liberalen, akademischen Milieu, das auch ihr eigenes ist. "Nackt", die erste Erzählung, berichtet von einer solchen weißen Mittelstandsfrau. Sie wird in einem Park überfallen, von einer Gruppe schwarzer Kinder. Die Kinder zwingen sie zu Boden, entreißen ihr alles, selbst die Unterwäsche. Nackt und damit ihres ganzen gesellschaftlichen Selbst beraubt, versteckt sich die Frau im Gestrüpp. Ihre größte Angst ist, dass sie von einem Bekannten gesehen werden könnte, dass ihre Identität als erfolgreiche, freundliche, kontrollierte Akademikerin zu Bruch gehen könnte. Selbst ihre eigene Familie soll sie auf keinen Fall so zu Gesicht bekommen. Erst im Schutz der Dunkelheit schleicht die Frau auf ihr Haus zu.

Die kindlichen Angreifer sind plötzlich da, und so abrupt, wie diese Geschichte beginnt, so endet sie auch vor einem echten Abschluss. Joyce Carol Oates lässt die meisten ihrer Geschichten offen, sie arbeitet viel mit Andeutungen und Beiklängen, sie spielt mit Ahnungen und Ängsten. Bedrohlich sind alle diese Erzählungen, die Gewalt zwischen Männern und Frauen, aber auch zwischen Müttern und Töchtern ist ein ständiger Begleiter. Einige echte Schauerstücke sind dabei, der letzte Text des Bandes, "Der Sammler der Herzen", kreist um einen morbiden Richter, der aus den Knochen seiner Opfer elfenbeinerne Schmuckstücke fertigt.

Diese Erzählungen reichen weiter als der Untertitel der Sammlung "Eine amerikanische Chronik in Erzählungen" vermuten lässt. Das Leben mit Scham und Schuld, die Furcht vor einem dunkleren Ich, die Faszination auch für die zerstörerischen Leidenschaften, das sind die Themen, die diese brillant bedrückenden Geschichten vorantreiben.

Besprochen von Frank Meyer

Joyce Carol Oates: Die Lästigen. Eine amerikanische Chronik in Erzählungen
Aus dem Amerikanischen von Susanne Röckel
Eichborn Verlag (Andere Bibliothek), Frankfurt 2011
381 Seiten, 32,00 Euro
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