Brigitte Kronauer liest "Im Gebirg"

Literarische Extremsportlerin

28:46 Minuten
Die Schriftstellerin Brigitte Kronauer, aufgenommen am 17.12.2010 im Arbeitszimmer ihres Hauses in Hamburg-Nienstedten
Die Schriftstellerin Brigitte Kronauer (1940-2019), aufgenommen 2010 im Arbeitszimmer ihres Hauses in Hamburg. © dpa / picture alliance / Markus Scholz
Von Jörg Plath · 28.07.2019
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Sie war einzigartig in der deutschsprachigen Literatur mit ihrem Ohr für das Gewäsch des Alltags. Schreiben hat Brigitte Kronauer als kunstvollen, gewagten Segelflug betrieben. Am 22. Juli 2019 ist sie verstorben. 2010 las sie "Im Gebirg" für unser Programm ein.
Sie liebte "Gewäsch und Gewimmel" und nannte auch einen ihrer Romane so. Brigitte Kronauer, die am 22. Juli 2019 verstorben ist, schaute den Menschen gern auf den Mund und ließ sie erzählen – voller Vertrauen darauf, dass ihre Wahrnehmungen und Erzählungen origineller sind, als gemeinhin im Alltag verlangt. Auch Kronauer vertraute ihrer Sprachmacht, um Schablonen und Klischees hinter sich zu lassen und eine stärkere, reichere, erfüllendere, sinnvollere Wirklichkeit einzufangen. Dem Erzählen traute die 1940 geborene Hamburgerin, die anfangs vom Nouveau Roman beeinflusst wurde, eine bewusstseinsverändernde Wirkung zu.

"Wuchern bis zur Verwahrlosung"

Brigitte Kronauers Zuneigung zu Mensch und Gegenwart war allerdings spitzzüngig, um nicht zu sagen: von gewitzter Garstigkeit. Eine "Generalscheußlichkeit" eigne der Welt, heißt es in einem ihrer Romane, und die Menschen seien nichts anderes als "räuberische Stoffwechselprozesse".
Eine brave Ehefrau lacht ein "Scheuermilchlachen", die Begeisterung legt sich unter einem "Topfdeckelsatz" zur ewigen Ruhe. Eine grelle, oft komische Wortmusik tendiert insbesondere in den späteren Romanen zur Parodie – die den Aufschwung, das Glücksmoment, die Erleuchtung, die Epiphanie nicht ausschließt.
Erfüllte Augenblicke gibt es immer wieder in den etwa 40 Büchern, die Brigitte Kronauer seit 1974 veröffentlicht hat, in "Errötende Mörder" ebenso wie in "Zwei schwarze Jäger", in "Teufelsbrück" oder im Romandebüt "Frau Mühlenbeck im Gehäus" von 1980. Bei der Lektüre vergisst man nie, dass sich das Glück der Sprache und der Formung verdankt; einem hellwachen Erzählen, das anders klingt als üblich, sich liebend gern dem "Wuchern bis zur Verwahrlosung" anheimgibt und es zugleich reflektierend einfängt in ausgefeilten Konstruktionen von Erzählperspektiven, Kapiteln, Büchern.

"Unser kleiner Lackaffe! Ein Grollen hört er, wie das eines Gewitters oder das Brüllen eines Löwen. Und was sieht er? Die kreischend rot gekleideten Männer vom Notdienst. Sie tauchen nebeneinander aus einer Felsspalte, vielmehr über einem nicht wahrgenommen Vorsprung der Wand auf. Herbert winkt mit beiden Armen. Aber es sind ja gar – hem hem – die Sanitäter. Es sind drei, nein vier andere Wesen mit allerdings feuerrot umrandeten Augen und Kehlsäcken. Sie kommen näher, zügig und gemächlich, auf hohen Beinen in versetzter Reihe. Ruckartig bewegt sich ihr gewaltiger Schnabel. Unaufhaltsam, ohne den Abstand zueinander zu ändern, kommen sie auf Herbert zu, der sich an seinem Stein festkrallt und sich nicht rührt und kaum mehr atmet. Er möchte sich totstellen, hem hem, denn er hat sie erkannt. Sie fressen Schlangen, Frösche, junge Vögel, kleine Säuger und leben in der Savanne, versucht er sich zu beschwichtigen wider seine bessere Ahnung. In ihrem großräumigen Jagdrevier, stammelt er vor sich hin, stöbern sie nach einem Steppenbrand tote oder schwer verwundete, vom Feuer geröstete Tiere auf. Ihr dumpfes Brüllen wird häufig mit dem von Löwen verwechselt. Sie haben, schluchzt Herbert, ein spezielles Jagdverfahren im Familienverband. O ja, Herbert, das Mondkalb, erinnert sich. Und wie er sich erinnert!"

Aus: Im Gebirg. In: Brigitte Kronauer, Die Tricks der Diva. Reclam, Ditzingen 2010

Handlungszierrat der üblichen Art bietet die Schriftstellerin nicht, obwohl es fast immer um Liebessehnsüchte von Einsamen geht. Kronauer spielt virtuos mit romantischen und christlichen Motiven, sie konstruiert ihre Romane aufwändig und liebt die Topographie.
Im Roman "Teufelsbrück" lebt die verwitwete Maria Fraulob im Taubnesselweg (!) und nimmt an der Fährstation Teufelsbrück des öfteren die Fähre, um jenseits der Elbe im Alten Land das Paradies an der Seite eines schönen Mannes zu suchen. Dass sie stattdessen die Geliebte des Begehrten findet, die ihr inmitten vieler Vögel und Frauenschuhen Kunstwerke mit obszön erotischen bis sexuellen Abbildungen zeigt – nun ja, das Alte Land ist eben ein besonderes, von Maria erträumtes Paradies und der Schöne im Übrigen geistlos ...

Das Wegfallen des Mittelgrunds

In dem Roman "Die Frau in den Kissen" heißt es über das Erzählen: "Es ist ein Balancieren, ein kunstvoller Segelflug zwischen Tag und Nacht, ein Gleichgewichthalten zwischen zwei Gegensätzen."
Schreiben hat Brigitte Kronauer als solch einen kunstvollen, gewagten Segelflug betrieben. Von Anfang an war die Flachländerin vom Gebirge mit seinen Höhen und Tiefen, Steilgraten und Abgründen fasziniert.
"Und wenn ich mir so vor Augen führe, was ich genau mit Hochgebirge meine", hat sie in einem Gespräch gesagt, "dann ist das nicht nur die Höhe, sondern es ist das Wegfallen des Mittelgrundes. Eine Mittelgebirgslandschaft ist dagegen viel lieblicher, aber auch konventioneller. Während eben im Hochgebirge manchmal durch eine kleine Wölbung alles, was jetzt zwischen dem Steilaufragenden, zwischen der Felswand, noch ist, weggeschnitten wird und zwei scharf die Räumlichkeit eigentlich leugnende Extreme gegeneinander gesetzt werden – hier das Niedrige, und dann, um so gewaltiger, der Hintergrund. Das wirkt außerordentlich unkonventionell auf meine Flachländeraugen, und, das ist wohl auch etwas, was mich in der Literatur besonders fesselt."
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