Brexit-Vereinbarung

Kommt jetzt das endgültige goodbye?

Ein Mann demonstriert mit anderen Brexit-Gegnern auf dem Londoner Parliament Square. Er trägt einen blauen Zylinder mit der Aufschrift: "Stop Brexit". Außerdem hält er ein Plakat mit einem Zitat von Arron Banks hoch: "I think we would have been better to remain." Im Hintergrund ist eine Frau zu sehen, die ein Plakat mit der Aufschrift hochhält: "Brexit: is it worth it?"
Brexit-Gegner auf dem Londoner Parliament Square: Wie wird das britische Parlament abstimmen? © imago stock&people
Nicolai von Ondarza im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 26.11.2018
Monatelang wurde gestritten, nun haben EU-Politiker den Austritt des zweitgrößten Mitglieds vereinbart. Dennoch ist weiter alles offen. "Wenn das Abkommen scheitert, sind wieder fast alle Optionen auf dem Tisch", sagt Europa-Experte Nicolai von Ondarza.
Liane von Billerbeck: Gestern also die Vereinbarung zwischen der EU und Großbritannien über den Austritt der Briten, nach 17 Monaten heftigen Streits, vielen Aufs und Abs. Es war so ein bisschen eine Träne im Knopfloch, wenn man die Kanzlerin da gehört hat, die von einem "tragischen Moment" gesprochen hat. Wie haben Sie das empfunden?
Nicolai von Ondarza: Ich glaube, es war gestern wirklich eine sehr nüchterne Affäre. Man hat sich getroffen, um diesen Vertrag zu besiegeln, aber verhandelt wurde ja nicht mehr. Und die EU hat sich bei dem Vertrag weitgehend durchgesetzt. Aber letztlich verliert sie eben doch ihr zweitgrößtes Mitglied.
von Billerbeck: Es hat nur eine halbe Stunde gedauert, also deshalb nüchtern, dieser Eindruck, fast bürokratisch, der stimmt wohl. 45 Jahre haben die Briten zur EU gehört. Was geht – oder was ginge, muss man ja sagen, es muss ja noch unterzeichnet werden vom Parlament, der Vertrag –, was ginge mit deren Weggang zu Ende?

Wirtschaftlich so stark wie die 18 kleinsten EU-Länder

von Ondarza: Ich glaube, man verliert zwar ein kritisches Mitglied, aber eben auch ein Mitglied, das viel an Wirtschaftspragmatismus reingebracht hat, ein Mitglied, das immer die EU intellektuell herausgefordert hat und das eben auch zum Ansehen der EU weltweit beigetragen hat, mit seiner Größe im UN-Sicherheitsrat, mit der Wirtschaftskraft und mit den militärischen Kräften. Und ich glaube, das wird die EU auch spüren.
von Billerbeck: Da gab es gestern so eine interessante Zahl, die die Kollegen der "Tagesschau" da noch mal in Erinnerung gebracht haben, dass die Wirtschaftskraft – Sie haben sie ja eben auch erwähnt –, von Großbritannien so stark ist allein wie die der 18 kleinsten EU-Mitglieder. Das ist schon eine Ansage. Aber nun wissen wir ja, dass Theresa May Ihre Landsleute via Zeitung zwar aufgerufen hat, diesem Vertrag zuzustimmen, ob es dazu kommt, ist aber sehr fraglich. Da sind zuerst mal ihre eigenen Hardliner Boris Johnson und Co., der ja gesagt hat, nach diesem Vertrag würde Großbritannien zum Vasallen der EU werden. Was stört ihn denn so besonders?

Übergangsphase ohne Mitspracherecht

von Ondarza: Theresa May hat bei den Verhandlungen eigentlich in vielen Punkten gegenüber der EU nachgegeben und letztlich die meisten ihrer roten Linien aufgegeben. Das bedeutet eben, dass Großbritannien bis mindestens Ende 2020, möglicherweise 2022, in einer Übergangsphase bleibt, wo sich das Land insgesamt an EU-Gesetzgebung bindet, ohne ein Mitspracherecht zu haben, und darüber hinaus möglicherweise sogar in eine Zollunion, um die Nordirland-Problematik zu regeln. Kritiker sagen also, dass Großbritannien zwar die EU verlässt, aber in vielen wirtschaftlichen Bereichen sich weiter an EU-Gesetzgebung bindet, und das eben, ohne ein Mitspracherecht zu haben.
von Billerbeck: Stichwort Nordirland: Die DUP, die konservative nordirische Partei, von der ist ja Theresa May abhängig. Sie führt eine Minderheitsregierung, und die Nordiren haben zehn Abgeordnete im Parlament, und die haben schon angekündigt, sie würden nicht zustimmen. Was stört denn die?

Sonderregelung für Nordirland in der Kritik

von Ondarza: Ein Teil dieses Abkommens ist auch eine sogenannte Rückversicherung oder "Back-stop" für Nordirland, um auf jeden Fall zu garantieren, dass diese Grenze offen bleibt. Und diese Rückversicherung beinhaltet, dass Nordirland sich auf jeden Fall, egal, was nachher bei dem zukünftigen Verhältnis rauskommt, an EU-Gesetzgeber weiter bindet. Und die nordirische DUP befürchtet daher, dass das der Einstieg ist in Richtung eines wiedervereinigten Irland, wo Nordirland vom Rest von Großbritannien abgetrennt wird. Und deswegen sagen sie, das ist uns wichtiger als alles andere. Wir werden dem Abkommen in dieser Form niemals zustimmen.
von Billerbeck: Wie könnte die Premierministerin denn die DUP besänftigen?
von Ondarza: Das ist auf Basis dieses Abkommens kaum noch möglich, denn für die DUP ist nichts wichtiger als der Verbleib Nordirlands in Großbritannien. Und die sagen, solange es eine rechtlich garantierte, verbindliche Regelung im Abkommen gibt, das Nordirland anders stellt als den Rest von Großbritannien, könnten sie niemals zustimmen. Und das wäre also nur möglich, wenn May nochmals zur EU zurückgehen würde, um nachzuverhandeln. Und das lehnt in Brüssel jetzt jeder ab.

Die Mehrheit der Nordiren stimmte für den EU-Verbleib

von Billerbeck: Das Verrückte ist ja, dass die Mehrheit in Nordirland ja für den Verbleib in der EU gestimmt hat. Das ist also ja da schon ein Gegensatz zwischen der DUP und der Mehrheit in Nordirland.
von Ondarza: Ja, aber die DUP ist ja eben auch Konfliktpartei im Nordirland-Konflikt, hat 1998 das Karfreitagsabkommen abgelehnt. Und für die Wählerschaft der DUP, die sich eben vor allen Dingen als Briten sehen, ist nichts wichtiger, als durchzusetzen, dass es keine Änderungen im Verhältnis zwischen Nordirland und Großbritannien gibt. Und deswegen sehen sie eben ihre Wählerschaft nicht bei dem Verbleib in der EU, sondern ganz klar darin, Nordirland ganz nahe bei Großbritannien zu halten.
von Billerbeck: Herr von Ondarza, Sie sind der Experte, der Großbritannien-Experte und der Leiter der Europaabteilung in der SWP in Berlin. Gibt es denn überhaupt noch eine Chance, dass dieses Abkommen unterzeichnet wird vom britischen Parlament? Denn alles, was Sie sagen, spricht ja dagegen. Müssen wir nicht davon ausgehen, dass wir im Dezember dann sagen, ja, war alles umsonst?

Trotz Vereinbarung – noch ist alles möglich

von Ondarza: Es ist tatsächlich so, dass es jetzt die größere Überraschung wäre, wenn das Abkommen beim ersten Mal durch das Parlament durchkommen würde. Und Sie sagten am Anfang, im Juni 2016 wussten wir nicht, wohin der Brexit geht. Man muss tatsächlich sagen, dass jetzt auch, knapp drei Monate vor dem Austritt, es immer noch völlig offen ist, wie es weitergeht. Denn wenn das Abkommen scheitert, dann sind auf einmal wieder fast alle Optionen auf dem Tisch, von Neuwahl bis sogar zu einem zweiten Referendum über den Brexit.
von Billerbeck: Das hat Theresa May natürlich weit von sich gewiesen in den letzten Tagen. Aber was bedeutete es, wenn Großbritannien ungeregelt, wie immer so schön gesagt wird, austritt aus der Europäischen Union? Welche Konsequenzen hätte das?

Ein No-Deal hätte weitreichende Folgen

von Ondarza: Wenn das Abkommen abgelehnt wird und es keine weitere Regelung mit der EU gibt, dann würde Großbritannien einfach durch die gesetzliche Regelung des EU-Vertrags nächstes Jahr im März ohne jegliche Vereinbarung aus der EU rausfliegen. Und das bedeutet eben auch, dass über Nacht alle Regelungen, die die EU und Großbritannien verbinden, wegfallen. Und da wären so Sachen in Frage, ob überhaupt britische Flugzeuge noch in den europäischen Luftraum fliegen können, was mit EU-Bürgern in Großbritannien passiert, wie das mit Medikamenten und Lebensmitteln ist. Das würde wirklich zum allergrößten Stillstand führen und wird deswegen auch von der Wirtschaft sehr stark befürchtet. Und es ist auch mit ein Grund, warum viele in London davon ausgehen, dass, selbst wenn es zur Ablehnung beim ersten Versuch im Parlament kommt, die Briten noch alles versuchen werden, um diesen No-Deal irgendwie zu verhindern.
von Billerbeck: Einschätzungen waren das von Nikolai von Ondarza, Großbritannien-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik. Ich danke Ihnen für das Gespräch. Wir werden uns wiederhören, Herr von Ondarza!
von Ondarza: Sehr gern, danke!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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