Bremen und die Kunst in der Kolonialzeit

Ein großer blinder Fleck

Das Gemälde "Nude with Fan, Verso: Sleeping Milli, 1909-1911" des deutschen Malers Ernst Ludwig Kirchner (1880-1938) hängt am 04.08.2017 in der neuen Sonderausstellung "Der blinde Fleck. Bremen und die Kunst in der Kolonialzeit" in der Kunsthalle Bremen. Rechts im Hintergrund ist die Bronze "Malaiin, 1916" von Martin Kolbe (1877-1947) zu sehen. Beide Werke sind Beispiele, die die Faszination von fremden Menschen in der Darstellung von europäischen Künstlern widerspiegeln. Mit dieser Ausstellung vom 05.08.-19.11.2017 untersucht erstmals ein deutsches Kunstmuseum seine Geschichte auf die Spuren der Kolonialzeit
Ernst Ludwig Kirchners "Nude with Fan" vor einer Bronze von Martin Kolbe. © dpa / Ingo Wagner
Von Jochen Stöckmann · 04.08.2017
Emil Nolde porträtierte seine "edle Wilden" mit Pistole im Anschlag. Auch die Bilder selbst zeigen den brutalen Rassismus der Kolonialzeit. Die Bremer Kunsthalle stellt sich diesem Erbe nun in einer kritischen Ausstellung. Sorgt aber für neue "blinde Flecken".
Porträts von Menschen in Afrika und Ozeanien. 1913, 1917, 1923 gemalt, gezeichnet von Emil Nolde und Max Pechstein, prominenten Künstlern, Heroen des Expressionismus. Daneben Tanzmasken und Holzschnitzereien, die – wie Pechstein selber zugab – seine "Einbildungskraft in Schwingung versetzten". Als "Primitivismus" abgetan. Künstler: unbekannt. Aber diese Sammlungsobjekte in der Bremer Kunsthalle haben die Kunstgeschichte der Moderne beeinflusst.
Dennoch interessierte sich niemand für ihre Entstehung oder das Schicksal der Künstler. Bis dann vor anderthalb Jahren Julia Binter kam und recherchierte:
"Europäische Künstler waren die Ersten, die Kunst aus Afrika, Ozeanien und Asien als Kunst anerkannt haben. Gleichzeitig haben sie sich aber nicht damit auseinandergesetzt, wie diese Werke überhaupt nach Europa kamen."
Nämlich durch den Überseehandel im Zuge jenes Kolonialismus, an dem Bremer Kaufleute gut verdienten. Sie gründeten den Kunstverein und stifteten Kunst. So kam es zur außergewöhnlichen Sammlung von japanischen Holzschnitten. Die konnten erst einmal als unverdächtig gelten, waren keine Trophäen oder Schaustücke kolonialer Überheblichkeit:
"Diese Kunst hat als Projektionsfläche gedient für die eigenen Träume und Sehnsüchte."

Keine Rücksicht auf die "edlen Wilden"

Eine harmlose Suche nach dem Paradies also, die aber nicht nur im Fall Nolde fatale Folgen hatte: In den Kolonien porträtierte der Künstler die von ihm ob ihrer "Natürlichkeit" bewunderten Einwohner als "edle Wilde". Ohne sich um deren Weltsicht groß zu kümmern:
"Dieses Malen wurde auch als eine Besitzergreifung der eigenen Person gesehen. Deswegen wollten sich ganz viele Menschen nicht malen lassen."
Aber ob nun "Palaumädchen" oder "schlafende Milli", sie alle waren Untertanen des weißen Mannes. Deshalb soll Nolde anfangs ein Foto-Porträt von Kaiser Wilhelm gezückt haben mit der Bemerkung, der wünsche sich ein Bild von seinen "Kindern". Als das nicht half, wurden andere Saiten aufgezogen:
"Emil Nolde hat seine Tagebücher aus dieser Zeit veröffentlicht, wo er ganz genau sagt, dass er mit der Pistole im Anschlag gemalt hätte."
Im Lichte solcher Erkenntnisse schaut man jetzt genauer hin. Vor allem, weil Julia Binter die Trennung von Kunst und Kommerz, von edlen Absichten und profitablen Handelsunternehmungen unterläuft. Etwa mit einem Panorama-Blick auf Bremen im Jahr 1890: "Da gab es neben einer Kolonialwarenausstellung eine Kunstausstellung und auch Menschen aus den Kolonien, in einer Art Völkerschaumanier ausgestellt."
Der blinde Fleck, Bremer Kunsthalle, Julia Binter, steht am neben einer Tatanua-Maske eines unbekannten Künstlers aus Neuirland.
Die Kuratorin Julia Binter.© dpa/Ingo Wagner
Oder richtiger: zur Schau gestellt, mit exotischem Fes auf dem Kopf oder fast splitternackt, nur mit Lendenschurz bekleidet. Das war ein Bild, ein Klischee, das sich bis in die 1970er-Jahre hinein in der Werbung, auf Plakaten und Verpackungen gehalten hat. "Man sieht, dass sich an der Komposition der Bilder, auch an den Rassismen, die hier abgebildet werden, sehr, sehr wenig verändert hat."

Fürsorgliche Sprachreinigung und neue blinde Flecken

Das sind auf ihre ungebrochen kolonialistische Art durchaus brutale Bilder – die aber in den Katalogtexten keine Entsprechung finden: Ob Titel von Kunstwerken oder historische Quellen, die Rede ist von der "Hockenden N*****", dem "Kopf eines E***********" oder – 1815 – der "Declaration über die Abschaffung des N-Handels". So werden durch fürsorgliche Sprachreinigung womöglich neue "blinde Flecken" produziert. Und ein ahistorisches Sehen, dass der Kuratorin selbst so fremd ist. Dabei herrscht ohnehin Beweisnotstand:
"Künstler, die in die Kolonien gefahren sind um dort das koloniale System zu dokumentieren sind hier in der Kunsthalle nicht wirklich vertreten."
Als wollten die ehrbaren Kaufleute nicht behelligt werden mit der erbärmlichen Realität von Sklaverei und Ausbeutung. Aber sie müssen davon gewusst haben: Bereits auf der Weltausstellung 1867 in Paris schmückten die Bremer Tabakhändler ihren Stand mit der überlebensgroßen Figur eines halbnackten schwarzen Mannes. So zeigt es Julia Binter mit der "Reproduktion einer Radierung". Die tatsächlich von einem Holzschnitt stammt. Der wiederum auf eine Fotografie zurückgeht. Und nicht klar erkennen lässt, ob es sich um eine Skulptur oder gar ein "tableau vivant", eine Lebendfigur handelte. Womöglich ist der "blinde Fleck" noch viel größer als gedacht.

Julia Binter, wissenschaftliche Mitarbeiterin des von der Kulturstiftung des Bundes geförderten Projektes, untersucht die "blinden Flecke” in der Geschichte und Sammlung der Kunsthalle Bremen.

"Der blinde Fleck. Bremen und die Kunst in der Kolonialzeit”Ausstellung in der Kunsthalle Bremen
noch bis 19. November 2017

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