Breitseiten gegen Kontrolle und Anpassung

10.08.2010
Wie ist die Lage der Freiheit? Der Medienphilosoph Norbert Bolz hat einen vielstimmigen philosophisch-soziologischen Zettelkasten zusammengestellt: Gedankenreich, aphoristisch und voller Zuspitzungen.
Ein Buch über Freiheit ist ein mutiges Unterfangen. Wurde die Freiheit nicht durch Philosophie, Soziologie und Biologie längst als Illusion entlarvt, die allenfalls für pathetische Sonntagsreden taugt? Der als "Lagebericht" deklarierte Essay des Medienphilosophen Norbert Bolz will ein Erkundungsgang durch das moderne Schicksal der Freiheit sein. Diverse "anspruchsvolle Freiheitsbegriffe" werden vorgestellt: Luther, Kierkegaard, Kant, Nietzsche, Hans Blumenberg, Odo Marquard.

Bei den großen Denkern des Antiliberalismus sucht Bolz die Einwände gegen die Freiheit. Der Begriff des Politischen von Carl Schmitt, die Systemtheorie von Niklas Luhmann und Arnold Gehlens Lehre von den Institutionen können von einer zeitgemäßen Philosophie der Freiheit nicht hintergangen werden.

"Nur wer die Freiheit liebt, kann ihren Begriff denken",

schreibt Bolz emphatisch. Sie sei eine Erfahrung, die durch "natürliche Ursachen" und "unsichtbare Mächte" nicht wegerklärt werden könne.

"Wer einen Wunsch hat, ihm aber nicht nachgibt, weil er einsieht, dass er eigentlich etwas anderes wollen sollte, macht die einfache Erfahrung der Willensfreiheit."

Zu deren Paradoxien gehört es, dass es sie nur gibt, indem man sie beschränkt. Freie Entscheidung bedeute gerade keine beliebige Fülle von Optionen, sondern die Reduktion von Willkür.

Bolz argumentiert komplex und mit vielen dialektischen Kniffen. Breitseiten aber feuert der Universitätsbeamte zwischendrin ab gegen das "soziale Gefängnis" des "vorsorgenden Sozialstaats". Überall aber wüchsen die soziale Zwänge: Auch die digitalen Netzwerke sind für Bolz Mechanismen der Kontrolle und Anpassung.

Brisant ist das Kapitel über die geschwisterlichen Werte der Aufklärung. Im Namen der Gleichheit werde längst die Freiheit beschränkt.

"Die meisten Deutschen neigen zum Sozialismus, weil sie die gleiche Verteilung des Unglücks der ungleichen Verteilung des Glücks vorziehen",

behauptet Bolz. Gegen diesen "Kult der Sicherheit" und das Hauptlaster des Sozialstaats, die Mutlosigkeit, macht er die Risikobereitschaft des Liberalen als letztmögliche männliche Tugend geltend.

So kommt sogar Thomas Buddenbrook zu neuen Ehren. Bolz verklärt die tragisch scheiternde Figur Thomas Manns, diesen heroisch-verkniffenen "Leistungsethiker" zum alt-neuen Ideal der Selbstdisziplin und Pflichterfüllung. Dann wieder preist er den Einzelnen auf den Spuren von Jüngers "Waldgänger". Aber auch die Institutionen und die verwaltete Welt werden als Bedingungen der modernen Existenz durchaus nicht nur verworfen. Mit liberalen Appellen nach "weniger Staat" begnügt sich Bolz jedenfalls nicht; dazu sind die Dinge zu kompliziert in der ausdifferenzierten Gesellschaft.

So laviert der Autor zwischen romantischem Individualismus, rationaler Systemtheorie und neuem Bürgersinn – solange nur schöne Zitate zur Hand sind. Eine klare Linie sieht anders aus. Bolz beschwört zwar die männliche Entschlossenheit, praktiziert dann aber doch eher die weibliche Tugend der Vermittlung – als Moderator seines vielstimmigen philosophisch-soziologischen Zettelkastens. Vorzüge des Buches sind der anregende Gedankenreichtum und viele aphoristisch zugespitzte Formulierungen.

Besprochen von Wolfgang Schneider

Norbert Bolz: Die ungeliebte Freiheit. Ein Lagebericht
Wilhelm Fink Verlag, München 2010
169 Seiten, 16,90 Euro

Link zum Thema:
Webseite von Norbert Bolz an der TU Berlin
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