Brechtfestival Augsburg

Medea und der Engel der Verzweiflung

06:15 Minuten
Die Schauspielerinnen Natalie Hünig, Elif Esmen und Christina Jung (v.l.) bei einem Shooting zu "Medeamaterial" nach Heiner Müller. Sie blicken in ihren Kostümen in Richtung der Kamera.
Rasante, musikalisch unterfütterte Clipästhetik: Natalie Hünig, Elif Esmen und Christina Jung (v.l.) in "Medeamaterial". © Staatstheater Augsburg / Jan-Pieter Fuhr
Von Stefan Keim · 26.02.2021
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Mit einer Bearbeitung von Heiner Müllers "Medeamaterial" unter der Regie von Tom Kühnel und Jürgen Kuttner startet das Augsburger Brechtfestival. Kritiker Stefan Keim hat eindrucksvolle Szenen gesehen. Aber es fehle die Radikalität Heiner Müllers.
Drei Kurzfilme, ein Minikonzert, eine Talkrunde, eine virtuelle Premierenfeier: Der erste Abend des Brechtfestivals bot ein vollgepacktes, kurzweiliges Programm mit der Aussicht, dass es so weiter geht. Aus einigen geplanten Theaterstücken sind Filme der unterschiedlichsten Art geworden.
Im Kern des zum zweiten Mal von Tom Kühnel und Jürgen Kuttner verantworteten Festivals stehen die Frauen rund um Bertolt Brecht, die realen und die fiktiven. Lina Beckmann und Charly Hübner, Corinna Harfouch und Stefanie Reinsperger werden täglich neue Filme liefern, die dann nach dem Livestream auch in der Mediathek angesehen werden können.

Ohne die Radikalität Heiner Müllers

Zum Start hat das Regie führende Duo Kühnel/Kuttner Heiner Müllers dichtes, düsteres Stück "Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten" verfilmt. Drei Schauspielerinnen des Staatstheaters Augsburg werfen sich in historische Kostüme und schwarze Pullis, ihre Körper verschmelzen mit Gemälden, Statuen, manchmal sind ihre Gesichter übereinander geblendet. Noch mehr als bei Müller, der noch Medea und ihren untreuen Gatten Jason in einen Dialog treten lässt, sind alle Grenzen zwischen den Charakteren aufgelöst.
Kühnel und Kuttner schauen in den Kopf Medeas, in dem die Gedanken und Assoziationen rasen. Medeamaterial eben. Ulrike Meinhof, die ihre Kinder verließ, um zur Terroristin zu werden, erscheint im Bild, dann Pasolini, der über seine "Medea"-Verfilmung spricht. Später wird in Schwarzweißaufnahmen eine Kuh getötet. Mehrmals zitieren die Regisseure Müllers Text "Engel der Verzweiflung" aus dem Stück "Der Auftrag".
Eindrucksvolle Szenen wechseln mit nachdenklichen Momenten. Manchmal bekommt der Film durch die rasante, musikalisch unterfütterte Clipästhetik etwas Glattes und Schickes. Er bleibt stets interessant, aber die Zumutung fehlt, die Radikalität Heiner Müllers.

Hinreißendes Figurenensemble von Suse Wächter

Über die ganze Woche verteilt gibt es Kurzfilme der Puppenspielerin Suse Wächter. Sie zeigt seit vielen Jahren mit ihrem hinreißenden Figurenensemble immer neue "Hysterienspiele" unter dem Titel "Helden des 20. Jahrhunderts". Diesmal singen die Puppen Brecht. Lenin und Luciano Pavarotti, Erich Honecker und Helmut Kohl sind dabei. Der Start war sensationell. Aus dem Weltall fliegt die Kamera auf die Erde zu.
Suse Wächter mit einigen ihrer Theaterpuppen.
Schon allein wegen Puppenspielerin Suse Wächter lohnt sich das Brechtfestival, meint Kritiker Stefan Keim.© Brechtfestival Augsburg / Ostkreuz / Tobias Kruse
Bis sie Suse Wächter einfängt, die mit ihrer Rosa-Luxemburg-Puppe auf einer Brücke sitzt. Sie schauen aufs Wasser, Suse Wächter singt die von Kurt Weill vertonte "Ballade vom ertrunkenen Mädchen". Und die Puppe schaut mit einer Seelentiefe, wie nur eine Puppe schauen kann, erlebt noch einmal, wie ihre Leiche in den Landwehrkanal geworfen wird, ein Bild unendlicher Verlorenheit.
Danach gibt die Frauenband "Dakh Daughters" noch ein kraftvolles Kurzkonzert mit weiß geschminkten Gesichtern, eine Art ukrainische, weibliche Antwort auf die "Tiger Lillies". Aber was bleibt, ist das Gesicht der Rosa-Luxemburg-Figur von Suse Wächter. Allein für diese vier Minuten lohnt sich schon das ganze Festival.

Brechtfestival Augsburg
Heiner Müller - "Medeamaterial"
Regie: Tom Kühnel und Jürgen Kuttner
Ab 27. Februar 2021 on-demand in der Mediathek des Staatstheaters Augsburg

Suse Wächter: "Helden des 20. Jahrhunderts singen Brecht"
Ab 27. Februar im Livestream

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