Donnerstag, 25. April 2024

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Estnisch-russischer Denkmalstreit
"Historische Fragen werden bis heute lieber ausgeklammert"

Am Anfang stand der Plan, ein Denkmal zu entfernen. Am Ende war das ganze Land in Aufruhr. Vor zehn Jahren kam es in Estland zu schweren Unruhen, als ein sowjetisches Kriegerdenkmal versetzt wurde. Richtig aufgearbeitet wurden die Ereignisse bis heute nicht, sagt Eva-Clarita Pettai von der Universität Jena im Dlf.

Eva-Clarita Pettai im Gespräch mit Anne Raith | 23.08.2017
    Denkmal für die im Zweiten Weltkrieg gefallenen sowjetischen Soldaten auf dem Militärfriedhof von Tallinn - Estland.
    Der Soldat aus Bronze, der damals mitten im Zentrum von Tallinn stand, soll an die Befreiung der Stadt 1944 erinnern. (imago/PHOTOMAX)
    Der Soldat aus Bronze, der damals mitten im Zentrum von Tallinn stand, soll an die Befreiung der Stadt 1944 erinnern. Doch was für die russischstämmige Bevölkerung die Befreiung vom Faschismus symbolisiert, steht für die Esten bis heute für die Wiederherstellung der Besatzung. Das Denkmal sei daher schon immer ein Streitpunkt gewesen, erklärt Eva-Clarita Pettai im DLF. Die Wissenschaftlerin arbeitet am Imre-Kertész-Kolleg an der Universität Jena im Projektbereich "Geschichte und Öffentlichkeit" und hat viele Jahre in Estland geforscht und gelehrt. Zum 50. Jahrestag des Kriegsendes, am 9. Mai 2005, sei dieser Streit dann wieder aufgeflammt und wurde später im Wahlkampf aufgegriffen - mit dem Versprechen, die Statue zu verlegen.
    Die heftige Eskalation, die der Verlegung im April 2007 folgte, sei "überhaupt nicht vorauszusehen" gewesen, erinnert sich Eva-Clarita Pettai. Für sie zeige das die Ignoranz der damaligen politischen Führung für die Bedeutung dieses Mahnmals für die russischsprachige Bevölkerung.
    Die Gefahr einer erneuten Eskalation wird im Baltikum sehr ernst genommen
    Geändert habe sich am Umgang mit der Geschichte seitdem nichts, bilanziert die Wissenschaftlerin. Historische Fragen würden bis heute lieber ausgeklammert. Man könne die unterschiedlichen Blicke auf die Geschichte jedoch auch nicht versöhnen, räumt Pettai ein. Daher richte die Politik heute den Blick auch nach vorn: auf die Integration der russischstämmigen Minderheit, die durchschnittlich 25 Prozent der Bevölkerung ausmacht, auf Begegnungen zwischen Jugendlichen.
    Dass der Streit um ein solches Denkmal noch einmal eskalieren könnte, hält die Wissenschaftlerin nicht für ausgeschlossen - wenn nicht in Estland, dann in Lettland. Ebenso wenig könne man ausschließen, dass sich Russland erneut einmische. Die Gefahr werde vor Ort - mit Blick auf die Krim und die Ostukraine - sehr ernst genommen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.