Brasiliens Atlantikwälder: "Es ist fast nichts mehr übrig"

Von Klaus Hart · 10.06.2012
Just vor der Konferenz Rio+20 wird das Gastgeberland in Amazonien sowie in Atlantikwäldern und Savannen von zwei Umweltkatastrophen heimgesucht, die eine Folge ungehemmter Waldvernichtung sind.
Grauenhaft abgemagerte, unter Hunger und Durst leidende Rinder blöken in Brasiliens Teilstaat Bahia, flächenmäßig weit größer als Deutschland und derzeit wie fast der gesamte Nordosten des Tropenlandes von einer verheerenden Dürre heimgesucht. Zwei Ernten wurden in Gluthitze von 40 Grad bereits vernichtet. Der dritten droht dasselbe. Ganze Städte müssen mit Wasser-Tankwagen versorgt werden. Menschen laufen kilometerweit mit Eimern zu den letzten Schlammkuhlen – kein Vergnügen, sich nur mit einer gelbbraunen Brühe waschen zu können.

Vielerorts Tierskelette, verendete Rinder wie hier in der Region von Jequié. Auf manchen sitzt ein Dutzend Geier und hackt in das welke Fleisch. Doch es gibt auch ein Aufforstungsprojekt, das der Dioziöse von Jequié gehört: Saftig grün und üppig, ein Blickfang in der verdorrten Gegend. Es wird von dem Vorarbeiter Fernando betreut:

"Ein Großgrundbesitzer hat einfach seine abgehungerten Rinder, die auf den riesigen Weiden nichts mehr zu fressen fanden, hierhergetrieben und sich selbst überlassen. Gleich an der Straße sind welche vor Schwäche zusammengebrochen."

Von der Stadt Jequié bis zum Aufforstungsprojekt fährt man über eine Stunde. Am Steuer des Kleinwagens sitzt der aus der Schweiz stammende Bischof Christian Krapf. Er spricht nach über 30 Brasilienjahren nur noch Portugiesisch:

"Auf beiden Seiten der Straße war alles Wald. Jetzt ist er fast weg, wir haben stattdessen vertrocknetes Grasland mit armseligem Buschwerk. Auch Flüsse und Bäche sind ausgetrocknet."

Brasilien und Waldvernichtung – da denken in Deutschland die meisten an Amazonien. Doch in den weit artenreicheren Atlantikwäldern mit den angrenzenden Baumsavannen wird viel rascher abgeholzt, ist auch der Bevölkerungsdruck größer. Denn hier lebt die Mehrheit der rund 190 Millionen Brasilianer.

Selbst in Deutschland schlägt vor Rio+20 das neue, vom Nationalkongress beschlossene Waldgesetz hohe Wellen, wird als deutlich schlechter, schwächer eingestuft als das bisherige. Wie dieses indessen auch mit seinen Aufforstungsvorschriften in der Praxis funktionierte, lässt sich derzeit während der Umweltkatastrophen gut beobachten. Bischof Krapf, der schon als Kind in der Familienlandwirtschaft mitarbeitete, müht sich um dieses Aufforstungsprojekt mit über 12.000 indischen Nim-Bäumen, aus deren Samen und Blättern sich Medizin gewinnen lässt:

"Ich habe hier die ganzen Jahre versucht, Groß-und Kleinbauern zu überzeugen, systematisch aufzuforsten. Aber sie machen es nicht, weil es eben dauert, bis man einen Nutzen davon hat. Alles hier rundherum könnte aufgeforstet werden, doch die Flächen werden nicht einmal bepflanzt. Es gibt soviel ungenutztes Land in Bahia, im ganzen Nordosten – warum nutzt man es nicht? Selbst in der Regenzeit werden die ersehnten Niederschläge von Jahr zu Jahr immer schwächer und seltener."

Früher, als noch Wald da war, stand auch das Grundwasser viel höher. Im vogelreichen Aufforstungsprojekt dagegen fehlt kein Wasser, es schmeckt köstlich.

Doch die Leute der Region schlagen nicht nur die Ratschläge von Bischof Krapf in den Wind, sondern seit über 100 Jahren sogar die von ihrem mit Festen und Prozessionen so hochgeehrten Nordost-Heiligen Padre Cicero, der von 1844 bis 1934 lebte und damals schon Umwelt-Gebote aufstellte. Nach wie vor hochaktuell:

"Holze den Wald nicht ab, keinen einzigen Baum.
Mache keine Brandrodungen, fackele deine Felder nicht ab.
Lasse Rinder und Ziegen nicht frei weiden, zäune sie ein.
Pflanze jeden Tag mindestens einen Baum, bis die Steppe wieder zum Wald geworden ist.
Werden diese Gebote eingehalten, wird die Dürre immer seltener, das Vieh immer gesünder, hat das Volk immer zu essen. Wird gegen die Gebote verstoßen, wird alles hier zur Wüste."


Die Resultate sieht man derzeit. Während Amazonien erst etwa 20 Prozent seiner Wälder verlor, also etwa 720.000 Quadratkilometer, sind von den Atlantikwäldern nur noch etwa sieben Prozent übrig, gingen rund 1,3 Millionen Quadratkilometer verloren. Der allergrößte Teil jener klimaschädlichen Gase Brasiliens, die zum globalen Klimawandel beitrugen, stammte also von hier, nicht aus Amazonien. Einheimische Experten fordern Aufforstung gegen die Dürre und empfehlen sogar, dem Beispiel Europas zu folgen, das bereits etwa 36 Prozent seiner Fläche wieder bewaldet habe. In Brasilien dagegen erfüllen weder Staat noch Unternehmen ihre Aufforstungsversprechen.

Auch der Umweltexperte Mario Mantovani, der die Umweltstiftung SOS Mata Atlantica zum Schutze der Atlantikwälder leitet, protestiert vergeblich:

"Von den Küstenwäldern gibt es nur noch etwa sieben Prozent , es sind die am meisten bedrohten Wälder des Planeten. Es ist fast nichts mehr übrig. Der Druck auf die Natur ist enorm. Der Staat ist inkompetent."

In Zeiten der Bevölkerungsexplosion werden ganze Schwärme wunderschöner exotischer Tropenvögel von Indio-Nachfahren mit dem Schrotgewehr vom Himmel geholt, landen in der Pfanne. Viele Arten sind daher selten geworden, gar ausgestorben. Politische Korrektheit ist Mario Mantovanis Sache nicht, auch er kritisiert die Indianer:

"Da gibt es eine idealisierte Sicht. Die Indios handeln wie jeder andere Naturzerstörer auch. Wir haben Indioführer, die in der Natur ein Desaster anrichten."

Und Priester Claudio Bombieri, ein renommierter Indianerexperte im Nordost-Teilstaat Maranhao, meint:

"Das brasilianische Waldschutzgesetz ist in der Praxis tot. Daher wird heute Edelholz massenhaft von Indianern illegal aus ihren Reservaten und aus Schutzgebieten an Holzfirmen verkauft im Tausch gegen Geld, Motorräder oder ein Steinhaus."

Brüllaffen in Amazonien – man hört sie immer seltener, weil ihr Lebensraum durch die Abholzung stetig schrumpft und weil sie auch von Indianern mit Gewehren unerbittlich gejagt werden. Derzeit wird Amazonien von atypischen Überschwemmungen geplagt. Sogar in der Millionenstadt Manaus am gewaltigen Rio Negro herrscht Notstand, stehen ganze Viertel unter Wasser. Durch Stadttore wird vielerorts nicht mehr gefahren und gelaufen, sondern gerudert, gepaddelt in Kanus. Bei 40 Grad Hitze drohen Epidemien – Malaria, Gelbfieber, Durchfall nehmen überall zu.

Aber litt Amazonien die letzten Jahre nicht auch unter verheerender Dürre, sah man selbst den Rio Negro nur noch als Rinnsal, Tausende von Schiffen auf Grund? Da gab es zahllose ausgetrocknete Amazonas-Seen, jeweils mit Millionen von elend verreckten Fischen, barbarischen Verwesungsgestank.

Paulo Adario, einst Studentenführer, politischer Gefangener der Diktatur, heute Leiter des Greenpeace-Büros in Manaus, geht jetzt jeden Tag zum Hafen, beobachtet den Pegelstand, grübelt, was da im Gange ist. Das Risiko für den Fortbestand der Wälder, sagt er, ist so hoch wie noch nie, die Abholzung muss auf Null zurückgefahren werden, so rasch wie möglich. Er und sein Forscherteam betonen wichtige Zusammenhänge: In immer längeren Dürreperioden, früher unbekannten Hitzegraden sterben immer mehr Amazonasbäume ab, denn es handelt sich, wie der Name ja sagt, um Regenwald, der auf möglichst kontinuierliche Regenfälle angewiesen ist, um gesund wachsen zu können. Kurze Regen- und Überschwemmungszeiten wie derzeit reichen vielerorts zur Regeneration nicht mehr aus. Nähert sich Amazonien daher dem Punkt, von dem an die Waldvernichtung auch ohne menschliches Zutun voranschreitet:

"Amazonien erlebt Extreme in immer kürzeren Abständen. 2009 Rekordhochwasser, 2011 Rekorddürre und 2012 sind wir wieder kurz vor Rekordüberschwemmungen. Alles Konsequenz der globalen Klimaänderung, zu der Brasilien, heute fünfgrößter Emittent von klimaschädlichen Gasen, durch Abholzungen beigetragen hat."

Der Biologe und langjährige UNO-Berater Fabio Olmos streift ebenfalls durch den Amazonaswald. Er beobachtet das Absterben der Bäume in der Dürreperiode, wodurch die Artenvielfalt auch bei Tropenvögeln, einem wichtigen Indikator, deutlich abnimmt:

"Brasiliens Regierung hat in Amazonien die Abholzung durch Großgrundbesitzer, Fleischkonzerne und Neusiedler seit langem subventioniert. Das Ergebnis war katastrophal. Derzeit stehen nur noch jene Amazonaswälder, die wirtschaftlich noch uninteressant sind. Ich fände es fabelhaft, wenn die EU einfach kein Fleisch mehr aus Brasilien kaufen würde."

Aber war nicht just 1992 im Jahr des UNO-Umweltgipfels von Rio de Janeiro jenes viel gepriesene und sehr teure Pilotprojekt der G-7-Staaten zum Schutze der Regenwälder Brasiliens gestartet worden, mit Deutschland als Hauptfinanzier?

Fabio Olmos: "Das Pilotprojekt zählt zu den größten Fehlschlägen im Umweltbereich, denn die Mittel dienten gar nicht dem Schutz der Regenwälder und geringerer Abholzung. Zudem gab es viele Umwelt-Betrügereien."

Fabio Feldmann, Umweltexperte der brasilianischen Grünen, urteilt nicht anders: "Das Ergebnis des Pilotprojekts war bedeutungslos."
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