Brasilien

Mit der Bibel ins Parlament

Blick auf die Stadt Rio de Janeiro und die Bucht, rechts ist die Christusstatue zu sehen
Blick auf die Stadt Rio de Janeiro © Picture Alliance / dpa / EPA / Marcelo Sayao
Von Victoria Eglau  · 04.09.2014
Im traditionell katholischen Brasilien wächst die Anhängerschaft evangelikaler Kirchen. Um ihren Einfluss auf die Gesellschaft zu stärken, begnügen sich die evangelikalen Kirchenführer nicht nur damit, in ihren Gemeinden und in den Medien Position zu beziehen. Sie haben auch eine starke politische Vertretung.
Penha, ein Vorort von Rio de Janeiro. Hier befindet sich eine Niederlassung der Assambléia de Deus, der größten Pfingstkirche Brasiliens. Der kahle Raum mit den weißen Wänden ist an diesem Sonntagabend bis auf den letzten Platz gefüllt. Ein Pastor in tadellos sitzendem Anzug und Krawatte hält eine flammende Predigt, die Gemeinde hängt an seinen Lippen. Besonders mitreißende Passagen begleitet sie mit zustimmenden Ausrufen, wie "Amen" und "Ehre sei Gott".
Über der Kanzel prangt in großen Lettern nur ein Wort: Jesus. Zwei Stunden dauert der Gottesdienst der Assambléia de Deus, der Gottesversammlung. Danach verlassen die Gläubigen - einige Hundert an der Zahl - beschwingt die Kirche, unter dem Arm ihre Bibeln.
Auf der Straße stehen manche noch eine Weile in Grüppchen zusammen.
"Ich finde diese Kirche spektakulär. Der Pastor ist ein Mann Gottes, er predigt toll. In dieser Kirche spricht Christus selbst zu uns. Wer hierher kommt, wird glücklicher, wird stärker, kann sich mehr kaufen, wird menschlicher."
Begeistert sich eine Frau, die sich für den Kirchgang fein gemacht hat. Die Assam-bléia de Deus hat mehr als zwölf Millionen Mitglieder und ist die erfolgreichste der evangelikalen Kirchen, die dem Katholizismus in Brasilien kräftig das Wasser abgraben.

Diese Menschen hören christliche Radiosender und hängen an den Lippen der Fernsehprediger. Einer der berühmtesten Prediger heißt Silas Malafaia. Der 55-jährige Pastor leitet die Niederlassung der Assembléia de Deus in Rios Vorort Penha, die wiederum mehr als hundert eigene Filialen hat. Malafaias dunkle Haare sind nach hinten gekämmt, seine Uhr ist golden, seine Bibel in Leder gebunden. Er lächelt verbindlich.
Die Favela Rocinha am 02.12.2007 in Rio de Janeiro (Brasilien). Die Favela Rocinha im Süden Rios gilt mit ca. 250.000 Einwohnern als größtes Armenviertel in Lateinamerika.
Die Favela Rocinha: Wer es den Ausstieg aus dem Armenviertel schafft, gehört zur Zielgruppe der evangelikalen Prediger.© dpa / Peter Kneffel
"Ich sage immer: In der Kirche bauen die Menschen ihren Glauben auf, in der Welt tun sie ihren Glauben kund. Nicht nur meine Kirche, sondern Tausende von Pfingstkirchen in Brasilien bringen den Menschen bei, das Evangelium über den Gottesdienst hinaus im Alltag zu leben."
Gegen Abtreibung und Homo-Ehe
Silas Malafaia ist in Brasilien bekannt dafür, dass er seine religiösen Auffassungen in seiner Kirche, im Fernsehen und in öffentlichen Debatten offensiv, zum Teil aggressiv, vertritt. So wettert Malafaia häufig gegen die Legalisierung der Abtreibung und gegen die Ehe von Homosexuellen.
"Ich äußere meine Ansichten, um Einfluss auf die Gesellschaft auszuüben, aber ich erfinde nichts Neues! Die Ehe zwischen Mann und Frau, die Kinder bekommen – das ist doch die Grundlage der menschlichen Zivilisation! Das ist keine Erfindung meiner Religion, ich verteidige nur, was bereits existiert. Aber das verteidige ich mit ganzer Kraft!"
Um Einfluss auf Brasiliens Gesellschaft zu nehmen, begnügen sich evangelikale Kirchenführer wie Silas Malafaia nicht damit, in ihren Gemeinden und in den Medien Position zu beziehen. Längst haben sie auch eine starke politische Vertretung.
"In fast allen Parteien gibt es Evangelikale"
Einer, der sich mit diesem Thema auskennt, ist José Reginaldo Prandi. Der Religionssoziologe von der Universität Sao Paulo erforscht unter anderem die Bewegung der Pfingstkirchen. Prandi, 68, schlank, mit kurzem, graumeliertem Haar, empfängt Besucher im Wohnzimmer seines Hauses in der brasilianischen Metropole.
"In fast allen Parteien gibt es Evangelikale. Die Kirchen haben ihre Vertreter nicht nur in der Abgeordnetenkammer, auch im Senat."
Im von der linken Arbeiterpartei PT regierten Brasilien ist die Bancada Evangélica für viele zum Synonym für die Blockade progressiver Reformen und gesellschaftlicher Modernisierung geworden. Soziologe José Reginaldo Prandi:
"Progressiv, modern – das ist für die Pfingstkirchen Teufelszeug. Ihre Abgeordneten erpressen die Regierung manchmal fast. Sie drohen damit, für wichtige Gesetze nicht zu stimmen, wenn die Regierung zum Beispiel Frauen oder Homosexuellen mehr Rechte gäbe. Außerdem verteidigt die evangelikale Fraktion die materiellen Interessen der Kirchen. Diese sind wegen ihrer enormen Spenden-Einnahmen unglaublich reich, aber zahlen keinen Centavo Steuern!"
In der brasilianischen Hauptstadt Brasilia, vor gut einem Jahr. Im Regierungsviertel verdammt der evangelikale Prediger Silas Malafaia lautstark Abtreibung und Homo-Ehe – rund siebzigtausend Menschen applaudieren begeistert. Die Großdemonstration, bei der auch andere Pastoren auftreten, hat Malafaia organisiert.
"Fundamentalistisch religiöse Gruppen haben Druck auf die Präsidentin ausgeübt"
Im modernen Kongressgebäude befindet sich im fünften Stock ein langer Flur mit Dutzenden von Abgeordneten-Büros. An einigen Türen prangt ein christliches Kreuz neben dem Namen des Parlamentariers. Dagegen hängen an der Tür von Iara Bernadi ein Plakat gegen Gewalt an Frauen und ein Foto der brasilianischen Präsidentin Dilma Rousseff. Beide, die Präsidentin und die Abgeordnete, gehören der Arbeiterpartei an. Im vergangenen Jahr beschloss der Kongress ein Gesetz, das die Behandlung von Vergewaltigungsopfer in staatlichen Krankenhäusern regelt. Die Autorin: Frauenpolitikerin Iara Bernadi.
Die brasilianische Regierungschefin Dilma Roussef wendet sich in einer Rede an die Nation, um die aufgeheizte Stimmung im Land abzumilden.
Die brasilianische Regierungschefin Dilma Roussef wendet sich in einer Rede an die Nation© AFP / Yasuyoshi Chiba
"Die Frau bekommt die Pille danach, wenn sie es wünscht. Es handelt sich hier nicht um Abtreibung. Aber die Kirchen haben uns vorgeworfen, wir würden den Weg für die Abtreibung in Brasilien freimachen. Die fundamentalistischen religiösen Gruppen haben Druck auf die Präsidentin ausgeübt, damit sie ihr Veto gegen das Gesetz einlegt. Aber das hat sie nicht getan."
Die katholische und die Pfingstkirchen grenzen sich in Brasilien scharf voneinander ab, aber im Parlament ziehen sie zuweilen an einem Strang. Eine katholische Fraktion gibt es allerdings nicht, und unter den Abgeordneten sind viel mehr Pastoren als Priester. Katholiken und Evangelikale eint vor allem der Widerstand gegen eine Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen.
Iara Bernadi macht sich keine Illusionen. Angesichts des Einflusses religiöser Politiker sei die Zeit für eine allgemeine Legalisierung der Abtreibung noch nicht reif.
"Das ist noch ein weiter Weg. Es gibt Forderungen nach einer Volksabstimmung. Obwohl viele Brasilianerinnen heimlich abtreiben, würde die Gesellschaft wohl gegen eine Legalisierung stimmen. Bei der Präsidentschaftswahl vor vier Jahren haben Katholiken und Evangelikale unsere Kandidatin Dilma Roussef mit dem Thema Abtreibung unter Druck gesetzt. Mit der Folge, dass sie als Präsidentin keinerlei Vorstoß zur Legalisierung gemacht hat."
Dilma Rousseff beruhigte die Evangelikalen
Dass sie keine Pro-Abtreibungs-Initiative ergreifen würde, hatte Linkspolitikerin Rousseff den evangelikalen Kirchen im Wahlkampf sogar in einem Brief versprochen – im Auge die Millionen von Wählerstimmen ihrer Anhänger. Nicht nur das: Dilma Rousseff beruhigte die Evangelikalen auch in Bezug auf ein geplantes Gesetz, das vorsah, die Diskriminierung von Homosexuellen unter Strafe zu stellen. Sie verpflichtete sich, keine Artikel abzusegnen, die die Glaubens- und Meinungsfreiheit verletzen würden. Im vergangenen Jahr wurde das Gesetz schließlich komplett auf Eis gelegt. Zur Enttäuschung von Iara Bernadi, die das Projekt 2006 ins Parlament eingebracht hatte.
"Die brasilianische Gesellschaft diskriminiert Homosexuelle und bräuchte ein Gesetz gegen Homophobie. Das Abgeordnetenhaus hat einstimmig dafür gestimmt. Im Senat haben es dann die evangelikalen und katholischen Fundamentalisten entdeckt, und jahrelang blockiert. In dieser Zeit hat es andere Fortschritte gegeben, letztes Jahr ist die Homo-Ehe in Brasilien zugelassen worden - allerdings durch eine Entscheidung des höchsten Gerichts. Der Kongress hätte sie niemals legalisiert!"
Zwei Stockwerke über dem Kirchenraum, in seinem Büro mit holzgetäfelten Wänden und Familienfotos, kann Pastor Silas Malafaia seine Genugtuung nicht verbergen.
"Wir haben es geschafft, das Gesetz gegen Homophobie zu kippen. Und ich war einer derjenigen, die am heftigsten dagegen gekämpft haben. Dieses Projekt wollte Homosexuelle nicht nur verteidigen, sondern ihnen Privilegien verleihen. Nur ein Beispiel: Ein schwules Paar küsst sich hier in meiner Kirche, und ich werfe es raus. Dafür wäre ich drei bis fünf Jahre ins Gefängnis gekommen. Drei bis fünf Jahre Knast! Es war ein harter Kampf, wir haben viel Druck gemacht, und jetzt ist das Gesetz vom Tisch."
"Wir Evangelikalen sind heute fast dreißig Prozent von Brasiliens Bevölkerung"
Silas Malafaia macht keinen Hehl daraus, dass er ein Strippenzieher ist, dass er und andere evangelikale Pastoren sowohl politische Entscheidungen als auch Wahlen beeinflussen.
"Ich unterstütze Kandidaten, ich mache meinen Einfluss geltend. Unseren Kirchenmitgliedern empfehle ich ausdrücklich Kandidaten fürs Parlament, fürs Gouverneurs- und fürs Präsidentenamt. Meine Kriterien? Dass diese Politiker meine Prinzipien verteidigen, und dass sie für das Amt geeignet sind. Wir Evangelikalen sind heute fast dreißig Prozent von Brasiliens Bevölkerung, wir haben Gewicht, wir haben Einfluss."
Zahlreichen Kritikern behagt so viel Religion in Brasiliens Politik nicht. Sie bezeichnen die evangelikale Fraktion als fundamentalistisch, warnen vor einer Theokratie, vor einem Angriff auf die Laizität des Staates. Der Politikwissenschaftler Joao Paulo Peixoto von der Universität Brasilia wiegelt ab, er sieht diese Gefahr nicht.
"Ich finde es normal, dass eine große gesellschaftliche Gruppe ihre Interessen vertritt. Solange diese nicht das Interesse der Allgemeinheit überlagern, haben die Evangelikalen meiner Ansicht nach das Recht, sich zu äußern und Repräsentanten in die Politik zu schicken. Kann sein, dass ihre Haltung fundamentalistisch und radikal ist. Aber sie haben keine Mehrheit in der brasilianischen Gesellschaft. Ich sehe den laizistischen Staat nicht in Gefahr. Brasilien wird keine Theokratie, das garantiere ich."
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Die katholische Kirche "Nossa Senhora da Paz" in Sao Paulo© Jonas Reese/ Deutschlandradio
Im Zentrum von Sao Paulo macht Marcos Visnadi gerade Mittagspause. Von der Avenida Paulista mit ihren Menschenmassen und Straßenmusikern geht der schwarzgekleidete 29-Jährige mit einem Sandwich in den Trianon-Park. Marcos Visnadi arbeitet bei der Zeitschrift Geni, die auf Gender-Themen spezialisiert ist. Dass das Gesetz gegen Homophobie nicht in Kraft getreten ist, sieht er als herben Rückschlag.
"Es gibt Statistiken, denen zufolge in Brasilien jeden zweiten Tag ein Mensch ermordet wird, weil er homo- oder transsexuell ist. Bei Verbrechen, denen Homophobie zugrunde liegt, wird nicht so gründlich ermittelt wie bei anderen. Mit dem Gesetz hätte der Staat seinen Abscheu vor den Angriffen auf Homosexuelle zum Ausdruck gebracht. In Brasilien existiert ein ausgeprägter Rassismus, aber wer wegen seiner Hautfarbe attackiert oder diskriminiert wird, kann sich an staatliche Instanzen werden. Homosexuelle haben diese Möglichkeit nicht."
Evangelikale werden ihren Einfluss erweitern
Marcos Visnadi freut sich, dass er seit vergangenem Jahr seinen Partner heiraten könnte. Aber er weiß auch, dass die Heirat von Schwulen und Lesben der evangelikalen Fraktion ein Dorn im Auge ist. Und, dass die Homo-Ehe, die nicht Brasiliens Kongress eingeführt hat, sondern das höchste Gericht, bei veränderten Mehrheiten möglicherweise wieder abgeschafft werden könnte. Für Visnadi steht fest: die Evangelikalen werden sich nicht mit dem Status Quo in der brasilianischen Politik zufriedengeben, sondern versuchen, ihren Einfluss zu erweitern.
"Meiner Meinung wollen die Evangelikalen ihre Macht langfristig ausbauen. Dabei scheuen sie keine Allianzen mit anderen konservativen Sektoren der Gesellschaft. Das Ziel ist eine politische Hegemonie der Rechten. Ich denke nicht, dass sich die Evangelikalen mit ihrer jetzigen Vertretung im Parlament zufriedengeben. Nein, sie wollen auf lange Sicht das ganze Land politisch dominieren."
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