Brasilien in der Pandemie

Ausgetanzt - kein Karneval in Rio

Ein Paar in Raumfahrer-Schutzanzügen flaniert am am Strand von Ipanema entlang.
Ein Paar in Raumfahrer-Schutzanzügen am Strand von Ipanema: Rio de Janeiro hat ein verheerendes Jahr hinter sich, der Karneval ist verschoben. © picture alliance / AA / Fabio Teixeira
Von Tom Noga · 07.02.2021
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Rio de Janeiro steht für Strandleben, Gemeinschaft, Leichtigkeit. Dieser Februar ist für Brasiliens Küstenmetropole nun aber besonders hart - es ist Karneval. Eigentlich. Was passiert mit einer Stadt, die die Coronakrise in ihrer Seele trifft?
Die Ankunft in Rio de Janeiro ist surreal. Außer meinem ist hier heute wohl kein Flugzeug gelandet. Es ist Spätherbst im Jahr 2020. Die Ankunftshalle ist leer, die Geschäfte sind geschlossen. Selbst durch die Passkontrolle geht es ruckzuck.
Draußen lehnen die Taxifahrer gelangweilt an den Kotflügeln ihrer Autos. Kein Gedränge und Gerempel wie ich es sonst kenne. Ich schultere meinen Rucksack und habe freie Auswahl: Taxi!
Rio de Janeiro ist meine zweite Heimatstadt. Ich bin jedes Jahr mehrere Wochen hier, habe Familie in Rio. Angeheiratete Familie. Und inzwischen habe ich auch viele Freunde. Cariocas, wie sich die Bewohner der "cidade maravilhosa", der wunderbaren Stadt, selbst nennen.

Ein verheerendes Jahr für Rio

Rio de Janeiro, das ist Karneval, Samba und die Copacabana. So ist das Klischee und natürlich ist das – wie immer - nicht die ganze Wahrheit. Aber was stimmt: Rios Lebenselixier ist die Begegnung - am Strand, in den Bars, in den Sambaschulen. Als die Pandemie im Frühjahr Brasilien so heftig erwischt hat wie kaum ein anderes Land, hat mich das erschreckt – auch, weil ich mir Sorgen um Rio gemacht habe.
Die Stadt hat bis heute hohe Infektionszahlen und wesentlich höhere Todeszahlen als der Rest des Landes. Am Telefon hatte ich bereits im Frühjahr traurige, ratlose, manchmal auch verzweifelte Cariocas. Sie haben gelitten während drei langen Monaten des Lockdowns und versuchen gerade wieder – langsam, langsam – zu einer Art "Normalität" zurückzufinden. Ich bin hier, um dabei zu sein.
Wir sind auf der Linha Vermelha. Seltsam. Diese Schnellstraße verbindet den reichen Süden mit dem armen Norden. Normalerweise herrscht hier Dauerstau. Und fliegende Händler aus den Favelas, den Armenviertel, verkaufen Wasser, Kaugummi und Kekse. Jetzt ist alles leer.
"Das Einzige, was besser ist: Wir haben weniger Verkehr." Das sagt Alfredo, mein Taxifahrer. Er ist 64 und Diabetiker, erzählt er. Zum Schutz gegen Viren hat er eine Plastikscheibe hinter den Fahrersitz montiert. Alfredo bringt mich vom Flughafen zu meinem Apartment in Aproador. So heißt der Felsen, der die beiden Strandviertel Copacabana und Ipanema voreinander trennt.
"Mein Geschäft ist um mindestens 70 Prozent eingebrochen", erzählt er. "Es kommt kaum noch jemand nach Rio. Jetzt haben die Hotels wieder geöffnet. Aber kaum ein Tourist fährt Taxi."
Rio hat ein verheerendes Jahr hinter sich.

Der Strand von Ipanema ist leer - verhältnismäßig

Nachmittags gehe ich zum Strand – so wie jeder und jede in Rio, normalerweise. Ich steuere den Posto Nove in Ipanema an, den neunten Posten der Lebensretter. Ein weißer Turm mit einer Terrasse unter einem Sonnensegel, nur durch die Promenade und einen Radweg von einer sechsspurigen Straße getrennt, der Avenida Vieira Souto.
Die Posten werden in den Strandvierteln durchgezählt von eins bis zwölf. Posto Nove ist ein mythischer Ort. Die Clique um João Gilberto hat hier die Bossa Nova erfunden, später haben die brasilianischen Superstars Caetano Veloso und Gilberto Gil hier abgehangen, wenn sie in Ipanema waren.
Blick auf den gut gefüllten Strand von Ipanema in Rio
Verhältnismäßig "leer"? Der Strand von Ipanema im Oktober 2020© picture alliance / ZUMAPRESS / Fabio Teixeira
Während der Diktatur in den später 60ern, den 70ern und 80ern war hier der Treffpunkt der Dissidenten. Was man bis heute noch ein bisschen merkt. Obwohl wenig los ist, hängen Marihuana-Schwaden in der Luft.
Ich sitze in einer Bar oben an der Promenade. Vor mir ein Água de Coco, ein Kokoswasser. Und neben mir Arnaldo Bichucher, ein alter Freud.
Arnaldo war vor vielen Jahren mal mein Guide. Seitdem treffen wir uns immer wieder, wenn ich in Rio bin. Es sind angenehme 25 Grad – für mich. Wir blicken auf den Strand, er ist voll – für mich.

"Unser Leben dreht sich um den Strand"

Arnaldo sagt: "Na ja, noch ist nicht Hauptsaison. Und es ist ein bisschen kühl, jedenfalls für uns Cariocas. Echt, für uns ist das kalt. Deshalb gehen viele nicht an den Strand. Es ist ihnen zu kalt."
Arnaldo grinst. Und ich muss zugeben: So verhältnismäßig "leer" habe ich den Strand von Ipanema noch nie erlebt. Drei Monate totaler Lockdown haben den Menschen zugesetzt. Die Strände sind gerade erst wieder geöffnet worden.
Sie waren geschlossen, nur das Baden im Meer war erlaubt. Kontrolliert wurde das natürlich nicht, aber ein Strandverbot in Rio, das gab es noch nie und das hat die Stadt ins Herz getroffen.
"Unser Leben dreht sich um den Strand", sagt Arnaldo. "Wir gehen nicht nur hin, um Spaß zu haben, sondern fühlen uns sehr tief kulturell mit dem Strand verbunden. Am Strand geht es um sehen und gesehen werden, hier treffen wir unsere Freunde."
Wir gehen runter zum Strand. Vorbei an den Futvolei-Felder nah an der Straße, den Felder, auf denen Fußball-Volley gespielt wird. Normalerweise sind alle besetzt, aber heute spielen hier nur zwei Teams.
Dahinter die Barracas, die Stände der Strandhändler. Ein paar Klapptische, ein Plastikdach drüber, und ein dröhnender Generator, der Kühlschränke antreibt. Die Strandhändler vermieten Liegeschirme und Sonnenschirme und verkaufen Getränke und Sandwiches.

Paulo arbeitet, die Familie muss essen

Ich bestelle eine Caipirinha. Der Stand gehört Paulo.
"Das Jahr hatte echt gut begonnen", sagt er. "Aber dann kam der Lockdown Mitte März. Von einem Tag auf den anderen konnte ich nicht mehr arbeiten. Ich habe Hilfe von der Regierung gekriegt, 600 Reais im Monat. Aber damit kommst du in Rio nicht weit. Und ich hatte was gespart. Aber das war nach zwei Monaten alle. Ich habe dann Wertsachen verkauft, meine Uhr, meine Sonnenbrille, meine Musikboxen, um zu essen zu haben und um Miete und Rechnungen zu bezahlen."
600 Reais sind umgerechnet knapp 100 Euro. 500 Reais Miete zahlt Paulo für ein kleines Haus: Wohnzimmer, zwei winzige Schlafzimmer, Außenküche. Keine 40 Quadratmeter für drei Personen: Paulo, seine Frau und die gemeinsame Tochter.
"Der Lockdown war schwer für uns. Wir hingen im Haus fest und durften nicht raus. Wir hatten kein soziales Leben", sagt er.
Paulo konnte, wie die meisten seiner Nachbarn, nicht untätig zu Hause sitzen, er musste schon bald wieder raus und arbeiten. Ohne Geld kein Essen. So ist das in Roçinha, wo Paulo wohnt, der mit 100.000 Bewohnern größten Favela Lateinamerikas. Oder um es politisch korrekt zu formulieren: in der größten Comunidade Lateinamerikas. Comunidade, heißt übersetzt Gemeinde.
Diese Bezeichnung hat den negativ besetzten Begriff Favela im Sprachgebrauch ersetzt. Besser gemacht hat es die Lebensumstände nicht.

Arm bleibt arm und reich bleibt reich

Es ist bezeichnend nicht nur für Rio, dass es für einen wie Paulo nur zu einer winzigen Bleibe in einer Comunidade reicht. Wie auch für Kellner, Portiers und Haushaltshilfen, die Empregadas, die wohlhabenden Familien das Kochen und Putzen abnehmen.
Arm bleibt arm und reich bleibt reich - in Brasilien wirkt das auf mich wie ein Naturgesetz. Nur am Strand mischen sich diese beiden Welten. Weshalb ihn der Anthropologe Roberto da Matta einmal als "einzige demokratische Institution Brasiliens" bezeichnet hat.
Im Großraum Rio de Janeiro leben knapp acht Millionen Menschen, ein Viertel davon in Comunidades. Eng auf eng mit erhöhtem Infektionsrisiko. Bezeichnend auch, dass die erste Corona-Tote in Rio eine Hausangestellte war. Ihrer Dienstherren hatten sich in Italien angesteckt und ihr nichts davon gesagt.
Ich nehme meine Maske ab und nippe an meiner Caipirinha. Paulo trägt keine Maske.
"Trage ich nie", sagt er. "Anstecken kannst du dich mit oder ohne. Die Maske hilft vielleicht ein bisschen, aber was du kriegen sollst, kriegst du. Außerdem ist erwiesen, dass nur Leute schwer erkranken, die schon geschwächt sind. Wer gesund ist, dem passiert nichts."
Blick auf die Favela Roçinha in Rio de Janeiro
Roçinha, wo Paulo wohnt, ist mit 100.000 Bewohnern die größte Favela Lateinamerikas.© picture alliance / ZUMAPRESS / Fabio Teixeira
Ich kenne die Favela, wo er lebt. In der Roçinha kleben unverputzte Häuser an einem steilen Hang, nebeneinander, übereinander, in sich verschachtelt. Schmale Gassen führen hinauf, weiter oben nur noch Treppen. In den Spitzkehren und auf den Treppenabsätzen stapelt sich Müll. Es stinkt bestialisch.

Fünf Prozent der Bevölkerung hungern

Während des Lockdowns hat ein Bürgerkomitee am Eingang zur Roçinha Lebensmittelpakete verteilt. Jede Woche. Im Auftrag der Ação da Cidadania.
Am Rande von Rios Stadtzentrum treffe ich Daniel Souza. Er leitet die Organisation.
"Die Ação da Cidadania ist eine ONG, gegründet 1993 im Kampf gegen den Hunger in Brasilien", erklärt er. "Mit Aktionen und Kampagnen wollen wir darauf aufmerksam machen, dass viele Menschen hier nicht genug zu essen haben. Brasilien ist einer der weltweit größten Produzenten von Lebensmitteln. Wie kann es da sein, dass hier so viele Menschen Hunger leiden?"
Nach Berechnungen der FAO, der Welternährungsorganisation der Vereinten Nationen, sind es in Brasilien wieder mehr als fünf Prozent der Bevölkerung, die nicht genug zu essen haben. In absoluten Zahlen: über 10 Millionen Menschen.
Dabei war Brasilien einmal eine Erfolgsstory: In der Regierungszeit der Arbeiterpartei unter Lula da Silva und Dilma Rousseff konnte die Hungerquote von 15 Prozent auf unter zwei Prozent gesenkt werden dank der "Bolsa Familia" - einem Sozialprogramm für besonders Bedürftige.
Das wurde mit Amtsantritt des rechtsradikalen Präsidenten Jair Bolsonaro abgeschafft. Und nun steigen die Zahlen wieder.
"Wir haben mit Paletten gearbeitet", sagt Daniel Souza. "Jede Palette enthält eine Tonne Lebensmittel. Tag für Tag hatte wir hier 100, 150 volle Paletten, die ganze Halle war voll. Komitees aus den Comunidades haben die Lebensmittel hier mit Lastwagen und Kombis abgeholt und dort verteilt. Hier sind noch ein paar Kisten übrig. Jede enthält Grundnahrungsmittel für zwei Wochen: drei Kilo Reis, drei Kilo Bohnen, ein Kilo Makkaroni, Öl, Zucker und Maniokmehl."
Die Halle ist riesig, ein fünf, sechs Meter hoher Bau aus rotem Backstein, mit Stahlträgern verstärkt. An Längswänden breite Stahltore, durch die früher Schiffe be- oder entladen wurden.

Eine Halle von historischer Bedeutung

"Diese Lagerhalle wurde von André Rebouças gebaut, dem ersten Schwarzen Ingenieur Brasiliens. Und sie hat historische Bedeutung: Hier war der erste Hafen Rios, gegenüber der Cais do Valongo, des Sklavenmarktes. Im Volksmund heißt die Gegend hier Klein-Afrika", erzählt Daniel Souza.
Klein-Afrika war früher schmuddelig, geprägt von kleinen, einstöckigen Häuser, an denen Putz bröckelt, und von engen verwinkelten Gassen. Ein paar dieser Viertel gibt es noch.
Blick auf den Cais do Valongo in Rio de Janeiro
Ein Ort mit Geschichte: der Cais do Valongo im Hafengebiet von Rio de Janeiro© picture alliance / NurPhoto / Luiz Souza
Aber die Gegend um die Lagerhalle der Ação da Cidadania ist hip geworden, mit edlen Restaurants, schmucken Läden und geräumigen Lofts, in denen Start-ups residieren.
Dieses Nebeneinander von junger urbaner Elite und eher älteren armen Menschen ist ungewöhnlich für Rio. Sonst sind diese Welten säuberlich getrennt. Aber auch hier finden so gut wie keine Begegnungen statt.

Klimatisierte, geschlossene Räume im Sommer

Daniel deutet auf ein Plakat an einem Pfeiler: "O fome não é fake." Hunger ist keine Lüge. Es spielt auf einen Spruch von Präsident Bolsonaro an, der Medienberichte über hungernde Menschen in Brasilien als Fake News bezeichnet. Die Açao da Cidadania jedenfalls bereitet sich auf die zweite Welle des Coronavirus vor.
"Ich glaube, dass noch viel auf uns zukommt, auf Rio de Janeiro und ganz Brasilien", sagt er. "Europa hat wieder ein exponentielles Wachstum. Und in den USA ist die Anzahl der Infizierten auf über 20 Million gestiegenen - eine unfassbare Zahl. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die zweite Welle auch hier ankommt."
In Brasilien ist Sommer. Für Europäer scheint es paradox. Aber genau das bereitet Daniel Souza Sorgen.
"Jetzt kommen wieder Touristen, auch ausländische, und es wird voll in Rio. Bei der infernalischen Hitze hier werden sich alle tagsüber an den Stränden drängen und abends dort, wo es klimatisiert ist, in Shoppingcentern und Restaurants. Und dann werden die Zahlen hier wieder stiegen", meint er.
Ich bin mit Alexandre Kalache verabredet. Er ist Epidemiologe und Vorsitzender des International Longevity Centre, eines Think-Tanks, der sich um die Herausforderungen in alternden Gesellschaften kümmert. Alexandre Kalache lebt in Copacabana.
Unsere Verabredung ist virtuell. Denn Alexandre Kalache befindet sich in Quarantäne. Seit unfassbaren neun Monaten hat er seine Wohnung nicht mehr verlassen. Weil er mit 75 Jahren zur Hochrisikogruppe gehört.

"Es wird viel zu wenig getestet"

"Ich habe große Angst. Wir haben viele Infizierte und viele Tote und eine sehr hohe Dunkelziffer. Niemand kann mit Sicherheit sagen, wie viele Menschen tatsächlich betroffen sind. Nicht in Copacabana, nicht in Rio de Janeiro und erst recht nicht in ganz Brasilien. Es wird viel zu wenig getestet, vor allem in den Favelas", sagt er.
"In Copacabana ist ein knappes Drittel der Menschen über 60, damit haben wir die höchste Konzentration von Alten in ganz Lateinamerika. Copacabana ist außerdem sehr dicht besiedelt und von Hügeln umgeben und damit von Favelas. Genaue Zahlen sind zwar nicht zugänglich, aber Copacabana war deshalb in Rio de Janeiro am stärksten von der Pandemie betroffen."
Aktuelle Zahlen gibt es schon. Aber denen traut niemand. Angeblich stirbt einer von hundert Covid-19-Patienten. Aber Copacabana zählt im Spätherbst 2020 knapp 500 Tote bei rund 10.000 Infizierten - fünf statt einem Prozent. Das liegt nicht nur daran, dass zu wenig getestet wird. Sondern auch an einem unzuverlässigen Meldewesen.
Dass Copacabana wiederum von Favelas umgeben ist, wie alle Wohnviertel für Begüterte, hängt mit den Hausangestellten zusammen. Um näher an ihren Arbeitsplätzen zu leben, siedeln sie sich auf den umliegenden Hügeln an.
"Diese Leute müssen ihr Haus verlassen, um zu arbeiten. Und sie müssen arbeiten, um ihre Grundbedürfnisse decken zu können. Zur Arbeit fahren sie in überfüllten Bussen. Hinzu kommt der Mangel an Disziplin, der uns Cariocas angeboren ist. Brasilianer sind generell wenig diszipliniert, aber wir Cariocas sind außerdem noch gleichmütig und sehr gesellig. Wir sind fröhlich und feiern gerne. Das hat natürlich etwas Schönes. Aber es ist wenig hilfreich, wenn wir ein ernstes Problem haben wie diese Pandemie", sagt Alexandre Kalache.

Im Partyviertel wird getrunken und getanzt

Rio de Janeiros Party-Viertel heißt Lapa. Und in Lapa ist es: wie immer. Viele kleine Bars, offen zur Straße, und in jeder wird laute bis sehr laute Musik gespielt. Lapa ist so etwas wie das Ausgehviertel von Rio de Janeiro, zumindest für jüngere Leute. Eher alternativ, wie Ehrenfeld in Köln oder St. Pauli in Hamburg. Und informell: Man tanzt, wo man steht, das kann auch auf der Straße sein.
Es ist noch relativ früh, aber die Tische und Stühle in den Bars sind voll und die Straße teilweise auch. Ich sitze hier mit Anderson. Auch er ist ein alter Bekannter - und geht heute zum ersten Mal seit Beginn der Pandemie aus. Endlich mal wieder Nachtleben genießen?
"Ein bisschen", sagt er. "Ich brauche halt Zerstreuung. Aber ich weiß, dass es nicht ganz richtig ist."
Das Ausgehviertel Lapa in Rio bei Nacht
"Ich brauche Zerstreuung": Das Ausgehviertel Lapa in Rio de Janeiro.© picture alliance / NurPhoto /Luiz Souza
Eine nette Formulierung: nicht ganz richtig. Aber wenigstens befolgt Anderson die Regeln. Fast obsessiv desinfiziert er sich aller paar Minuten die Hände. Und er trägt eine Maske.
"Richtig. Aber wie du siehst, tragen außer mir nur Leute Masken, die in den Läden arbeiten", sagt er. "Für die ist es Vorschrift. Aber von den Gästen kaum einer."
Anderson hat seinen besten Freund im Schlepptau. Der heißt Epitácio und kommt wie Anderson auch aus einem Mittelklasseviertel im Süden von Rio. Epitácio ist pro, Anderson contra Bolsonaro. Dass sie trotzdem befreundet sind, ist bemerkenswert.

"Wir machen bis zum Morgengrauen weiter"

Denn wie Donald Trump in den USA hat Bolsonaro Brasilien gespalten. Anderson und Epitácio können sich die Köpfe heißreden, ohne sich dabei an die Gurgel zu gehen.
"Bolsonaro ist schon extrem. Aber er ist ein notwendiges Übel", sagt der eine. "Bolsonaro fühlt wie das Volk. Er verhält sich wie das Volk. Und vor allem: Er spricht wie das Volk. Wenn wir auf der Straße Zoten reißen, wissen wir, dass manche nicht in Ordnung sind. So ist das auch bei Bolsonaro. Man fühlt sich ihm nah. In den Medien kommt das nicht so gut an. Und er redet zu viel. Aber entscheidend ist, was er macht. Und was er da in Brasília macht, ist korrekt."
"In Rio ist Bolsonaro doch nur wegen der extremen Gewalt gewählt worden, unter der wir alle leiden", sagt der andere. "Ein Arbeiter, der morgens um sieben auf den Bus wartet, muss befürchten, dass ihm jemand eine Knarre an den Kopf hält und sein Handy abnimmt. Oder kleines Geld, 10, 20 Reais. Die Leute haben sich gesagt: Wir wollen jemand, der zumindest für Sicherheit sorgt. Und was hat’s gebracht? Es ist erst besser geworden, du hast mehr Polizei auf den Straßen gesehen, auf Motorrädern, Fahrrädern, Rollern oder zu Fuß. Aber jetzt häufen sich wieder Überfälle und Diebstähle. Nachhaltig hat Bolsonaro nichts bewirkt. So ist es oft in Brasilien: Kaum ist es ein bisschen besser, wird es wieder schlechter."
Kurz nach Mitternacht. In Lapa ist es voll geworden. In den Bars und auf den Straßen. Mittendrin Anderson und Epitácio. Sie tanzen. Auf dem Bürgersteig. Beide mit Masken - als Einzige. "Wir machen bis zum Morgengrauen weiter. Vielleicht auch bis die Sonne strahlt."

Gähnende Leere in den Sambaschulen

Der Inbegriff des Feierns in Rio ist der Karneval. Nicht nur das Lebenselixier sondern das Leben schlechthin. Und in der Cidade de Samba, einer Ansammlung von Hallen im Schatten der ersten Favela Rio de Janeiros, wird es inszeniert. Oder genauer: Hier werden die Inszenierungen geschaffen, die zum Karneval in Rio gehören: Die fantasievollen Wägen für den Umzug, die bunten Kostüme, die mehr zeigen als verhüllen, die Musik, die sofort ins Bein geht.
In einer der Hallen treffe ich Cintia. "Die Cidade do Samba wurde geschaffen, um den besten Sambaschulen eine Heimat zu geben. Der Karneval in Rio ist ein Wettkampf, wie Fußball", sagt sie.
Vor drei Jahren war ich schon einmal hier, in den Hallen von O Grande Rio. Ebenfalls im Spätherbst. Damals haben hier ein paar Hundert Leute, geschraubt, gehämmert, geschweißt und genäht.
Und an einem Abend war ich auf einer öffentlichen Probe. Die finden von Oktober bis Januar jedes Wochenende am Sitz der Sambaschule statt, in diesem Fall in Duque de Caixías, einer grauen Industriestadt im Norden Rios.
Die öffentlichen Proben spülen Geld in die Kassen der Sambaschulen. Und sie dienen als Test für die Musik: Wie kommt sie an? Tanzen die Leute? Bei dieser Probe haben die Leute getanzt. Wie verrückt. Und nebenbei Unmengen an Feijoada vertilgt, den typisch brasilianischen Bohneneintopf, und mit reichlich Bier runtergespült.

"Das wird ein langes Jahr für uns"

Im Spätherbst 2020 gibt es keine öffentlichen Proben. Und in der Halle von O Grande Rio stauben die Wagen des letzten Karnevals vor sich hin. Denn der Karneval 2021 ist Corona-bedingt abgesagt. Oder genauer: verschoben.
"Als der Karneval 2020 zu Ende war, haben wir sofort mit den Vorbereitungen für 2021 begonnen - wie immer. Es dauert halt, bis alles organisiert ist. Aber jetzt wissen wir nicht, ob und wann der nächste Karneval stattfindet. Das wird ein langes Jahr für uns." Cintia seufzt.
Elias Riche, Präsident der Sambaschule Mangueira, schaut auf die Figuren der noch intakten Wagen der Parade in der Lagerhalle der Sambaschule, wo sie auf- und abgebaut werden.
Lagerhalle einer Sambaschule: Der Karneval, der im Februar stattfinden sollte, wurde verschoben.© picture alliance / dpa / Fernando Souza
Statt an den Songs zu feilen, wie sonst um diese Jahreszeit, streift sie nun durch eine menschenleere Halle. Oder besser: nicht ganz menschenleer. Denn da ist noch Juliane, eine Tänzerin in einem roten Nichts von Kostüm.
"Ich persönlich finde die Entscheidung richtig", sagt sie. "Alles andere wäre unverantwortlich gewesen, Menschen können ja am Virus sterben. Unser Karneval ist ein Weltereignis. Du weißt ja, wie viele Menschen extra dafür nach Rio kommen. Da müssen wir jetzt durch. Der Karneval wird überleben, die Show geht weiter. Natürlich bin ich traurig. Aber nur ein bisschen. Richtig traurig wäre ich, wenn es nie wieder Karneval gäbe. Das wäre echt schlimm. Jetzt müssen wir halt abwarten."

Der Karneval wird nicht sterben

"Die traurigsten Tage werden Karnevalssonntag und Rosenmontag sein. Erst dann werden wir kapieren, dass es keinen Umzug geben wird. Das werden schlimme Tage. Heute haben wir noch gar nicht verstanden, was die Absage bedeutet. Und was für ein großer Verlust das sein wird. Aber so Gott will, wird alles gut und wir feiern 2022 oder sogar gar schon oder Mitte 2021 wieder richtigen Karneval."
"Ich habe eine Überraschung für dich. Heute feiern wir Karneval!" Juliane tanzt. Nicht für mich, sondern mit mir. Mit rasend schnellen Schritten lässt sie die Hüften kreisen. Angefeuert von Cintia.
Eine kurze Episode. Dann ist der Karneval auch schon wieder vorbei. Es fühlt sich traurig an, weil das Wichtigste fehlt: die Leichtigkeit und die Unbeschwertheit, die ich an dieser Stadt so liebe. Und die ihren Charakter ausmacht.
"Corona gegen Rio de Janeiro", so heißt das Match, das gerade gespielt wird. Rio kämpft mit allen Mitteln, aber der Ausgang ist noch offen.
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