Bourbon, Einsamkeit und Zigaretten

Rezensiert von Kolja Mensing · 20.07.2006
Louanne Antrim war sicherlich kein angenehmer Mensch. Sie war gehässig, besitzergreifend und paranoid und verbrachte darüber hinaus den größten Teil ihres Erwachsenenlebens damit, sich systematisch mit Alkohol und Zigaretten zu Grunde zu richten. Als sie im August des Jahres 2000 in ihrem Haus in North Carolina an Lungenkrebs stirbt, reagiert ihr Sohn, der Schriftsteller Donald Antrim, darum auch zunächst mit Erleichterung. "Endlich", stellt er lakonisch fest. "Ich hatte genug von Louanne Antrim."
Der Untertitel der deutschen Übersetzung verrät es bereits: Mit "Mutter" hat Donald Antrim "keinen Roman" geschrieben, sondern einen langen, autobiographischen Essay. Es ist die Geschichte eines "lebenslangen Verfalls", und Antrim, der bisher vor allem durch seine zynischen Parodien auf den amerikanischen Alltag bekannt geworden war, erzählt sie nüchtern und fast distanziert.

Da ist Louannes trostlose Kindheit in Tennessee und Florida, die Highschool-Zeit, in der sie ihren späteren Mann kennen lernt, und der kurze Rausch des "Südstaaten-Intellektualismus" zu Beginn der Sechzigerjahre, als sie und die anderen "frisch verheirateten Kinder" der alteingesessenen Agrar-Elite C. G. Jung und "Finnegans Wake" entdecken, Partys feiern und "in Promotionsprogramme flüchten".

Dann holt die Wirklichkeit sie ein. Donald Antrims Vater nimmt sich eine Geliebte, und die Mutter entwickelt neben ihrer Arbeit als Dozentin für Mode und Modegeschichte an der Universität von Miami eine fatale Vorliebe für Bourbon auf Eis. Die Eltern lassen sich scheiden und heiraten Jahre später zum zweiten Mal, nur um sich kurz darauf erneut zu trennen, und spätestens jetzt verwandelt sich die vaterlose Restfamilie in eine Notgemeinschaft mit Wagenburgmentalität: "Wir brauchen uns keine Gedanken zu machen, was andere Leute denken", erklärt Louanne eines Tages ihrem Sohn. "Wir passen nirgendwo hin."

Man ahnt es schon: Als Resultat der durch den Alkohol noch beschleunigten Psychodynamik wird der Sohn in die Vaterrolle gezwungen. Diese spezielle Variante des von der Mutter beherrschten ödipalen Dreiecks ist in der amerikanischen Literatur oft beschrieben worden. Tobias Wolffs "This Boy’s Life", Richard Fords "Wild Life" oder Rick Moodys "Ein amerikanisches Wochenende" sind "Klassiker" dieses Genres, ein Beispiel aus der letzten Zeit ist Augusten Burroughs schonungsloser autobiografischer Bericht "Krass", und auch die medienwirksam geführte und zugleich romanhafte Familienfehde des Rappers Eminem könnte man nennen.

Der 1958 geborene Antrim reiht sich hier auf jeden Fall nahtlos ein. "Ich war schließlich ihr Mann", schreibt er.

"Es war meine spezifische und unerfüllbare Aufgabe, genauso wie und zugleich ganz anders als alle anderen Männer zu sein". "

Die Folgen sind fatal:

""Ich durfte meine Mutter nie wegen irgendeiner anderen Frau verlassen. Ich durfte sie nie belügen oder täuschen."

Kein Wunder also, dass er sich nach Louannes Tod zunächst einmal auf die Suche nach einem neuen Bett macht, um sich "von dieser Frau zu befreien" und endlich "anständig zu vögeln".

Antrim schreibt jedoch nicht nur über seine Mutter. Er folgt den Verästelungen seines familiären Stammbaums, erinnert an die "vornüber gebeugte, presbyterianische Plackerei" der Großeltern, die intellektuelle Hilflosigkeit seines Vaters, eines Literaturwissenschaftlers, und den traurigen Weg seines Lieblingsonkels Eldridge, der von einem liebenswerten Exzentriker zu einem nicht mehr gesellschaftsfähigen Trinker wird.

Immer wieder geht es in dieser amerikanischen Mittelklasse-Tragödie um Alkohol, Einsamkeit und Neurosen, um Enttäuschungen und Niederlagen. Und doch steht am Ende kein psychologisches "Muster" oder ein literarischer "Plot": "Mutter" ist "kein Roman" und "keine Analyse", sondern der Bericht eines Scheiterns. Während Antrim noch nach Erklärungen für den Zerfall der Familie sucht, muss er erkennen, dass die "Vorstellung von der Persönlichkeitsentwicklung als Prozess des Gewinnens von Einsichten in andere Menschen" nur eine Illusion ist. Sie führt nicht zu der Überwindung von Schmerz und Zorn, sondern allein zu der Erkenntnis, dass das "Martyrium des Verlassenwerdens das Leben selbst ist".

Vielleicht ist seine Mutter wirklich daran zerbrochen. Sicher ist, dass uns weder zwei Flaschen Bourbon und drei Schachteln Marlboro am Tag von diesem Martyrium erlösen, noch die Literatur. Im Gegenteil, sie verlängert es sogar noch in die Ewigkeit hinein. Das ist sozusagen die bittere Pointe dieses erschreckend klarsichtigen Buches, das im Original den Titel "The Afterlife" trägt, also "Das Nachleben". Auf der ersten Seite steht es dann auch wie in Stein gehauen: "Für meine Mutter". Ob diese Widmung ein Akt der Versöhnung oder eine Geste der Resignation ist, bleibt bis zum Schluss offen.


Donald Antrim: "Mutter. Kein Roman"
Aus dem Amerikanischen von Nikolaus Stingl
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2006
237 Seiten, 17,90 Euro