Borgstedte: Deutsch-Israelisches Verhältnis normalisiert sich

Moderation: Vladimir Balzer · 18.03.2008
Nach Einschätzung des Journalisten Michael Borgstede wird der Rede von Kanzlerin Angela Merkel in der Knesset in Israel nicht allzu viel Bedeutung beigemessen. Dies sei ein Zeichen der Normalisierung des Verhältnisses der Israelis Deutschland gegenüber. Ein möglicher Einmarsch im Gazastreifen habe für die Israelis eine weitaus größere Bedeutung als der Besuch der deutschen Bundeskanzlerin.
Vladimir Balzer: "Historisch" wird es schon genannt. Ein neues Kapitel in den Beziehungen zwischen Israel und Deutschland. Die Kommentatoren sind ergriffen. Heute Nachmittag spricht zum ersten Mal eine deutsche Bundeskanzlerin als erste Regierungschefin aus dem Ausland vor der Knesset. Bisher waren es immer Bundespräsidenten, die sprachen, Johannes Rau und Horst Köhler, jetzt also zum ersten Mal die Regierungschefin. Aber heißt das wirklich, dass sich Deutschland und Israel, die beiden Gesellschaften, wirklich näherkommen? Ist die Politik vielleicht sogar schneller als die Bevölkerung? Am Telefon in Tel Aviv ist jetzt Michael Borgstede, 32 Jahre alt, ausgebildeter Cembalist, ist auch schon in Konzerten aufgetreten und seit ein paar Jahren Journalist in Israel. Er schreibt dort für die "Frankfurter Allgemeine", und er hat gerade ein Buch veröffentlicht über das Alltagsleben in Israel, Untertitel "Leben im Ausnahmezustand". Schönen guten Morgen, Herr Borgstede!

Michael Borgstede: Guten Morgen!

Balzer: Heute redet ja Angela Merkel als erste deutsche Regierungschefin vor der Knesset. Dafür wurde sogar das Statut des Parlaments geändert. Angesichts dessen, was Sie in Ihrem Buch "Leben im Ausnahmezustand" nennen, welche Bedeutung wird dieser Rede eigentlich beigemessen bei den ganz normalen, sage ich mal, Israelis auf den Straßen von Tel Aviv und Jerusalem?

Borgstede: Ich glaube, die Tatsache, dass dieser Rede nicht so wirklich viel Bedeutung zugemessen wird, ist eigentlich ein Zeichen für die Normalisierung, zumindest des Verhältnisses der Israelis Deutschland gegenüber. Denn, wenn man da so heute in die israelischen Tageszeitungen schaut, da wird Frau Merkel schon erwähnt, da wird auch erklärt, dass das ein historischer Besuch ist. Aber der Umfang der Berichterstattung deutet eigentlich von sich aus nicht darauf hin, dass das ein riesiges Medienereignis ist. Man muss einfach verstehen, dass, wenn es heute darum geht, ob Israel wieder in den Gazastreifen einmarschiert, das zum Beispiel eine Entscheidung ist, für das Alltagsleben der Israelis eine weitaus größere Bedeutung hat als der Besuch der deutschen Bundeskanzlerin.

Balzer: Gleichzeitig gibt es ja ein paar Abgeordnete der Knesset, die diese Rede boykottieren wollen mit Verweis auf die deutsche Geschichte. Inwieweit wird eigentlich das Deutschland von heute als das Deutschland der Vergangenheit wahrgenommen, als das Deutschland des Holocaust?

Borgstede: Man muss das im Verhältnis sehen. Das sind zwei Abgeordnete von 120, und das gab es immer. Das gab es auch bei Horst Köhler, und das gab es bei Johannes Rau. Man muss sagen, das nimmt eigentlich jedes Mal ab, das werden jedes Mal weniger Abgeordnete. Das sind in der Regel Abgeordnete, denen man das verzeihen kann. Meist ist ihre ganze Familie in Konzentrationslagern umgebracht worden, oder sie waren sogar selber Überlebende des Holocaust.

Die israelische Gesellschaft heute hat, glaube ich, schon verstanden, dass das Deutschland von heute nicht mehr das Deutschland von damals ist. Es gab in den 60er Jahren, konnten Sie auf israelischen Straßen keinen Mercedes sehen, das ist heute anders. Mercedes, BMW und Audi, das sind heute Statussymbole auch israelischer Manager. Das sagt eigentlich schon alles.

Balzer: Und Fan von Bayern München zu sein, zum Beispiel? Es gibt ja einen Fanclub in Tel Aviv, glaube ich, sogar?

Borgstede: Ja, es gibt einen Fanclub von Bayern München. Es gibt einen Fanclub für Günther Jauch, und es gibt einen Fanclub für Tokio Hotel. Es mangelt nicht an Begeisterung für deutsche Kultur oder Fernsehgrößen.

Balzer: Die Erinnerung an den Holocaust ist ja das eine, das haben wir gerade besprochen, was die Beziehungen zwischen Israel und Deutschland ja immer noch prägt, auch gerade vielleicht für die ältere Generation. Dabei sagen ja viele und auch die Kanzlerin ja jetzt bei ihrem Besuch auch, wir müssten mindestens genauso in die Zukunft schauen, neue Themen finden, den jüngeren Teil unserer Gesellschaften zusammenbringen. Also wenn Sie gerade Tokio Hotel erwähnen oder auch Bayern München, scheint das ja schon ganz gut zu klappen. Sie sind Jahrgang 76: Welche Rolle spielt eigentlich Ihre Generation in diesem Verhältnis Deutschland - Israel?

Borgstede: Auch im meiner Generation ist es natürlich immer so, dass man in die Zukunft nur durch die Brille der Vergangenheit schauen kann. Das ist im deutsch-israelischen Verhältnis sogar ganz besonders so. Und ich glaube, da liegt auch ein großes Missverständnis. Die Israelis sind durchaus bereit zu sagen, wir schauen in die Zukunft, das ist uns wichtiger. Sie sind aber nicht bereit, aus verständlichen Gründen zu sagen, wir ziehen einen Schlussstrich, und die Vergangenheit ist uns darum nicht mehr wichtig. Sondern sie wollen auf dem Hintergrund der historischen Katastrophe gerne auch gemeinsam mit Deutschland in die Zukunft sehen.

Was ihnen Sorge macht, und wo es dann auch eigentlich zu einem großen Gegensatz kommt, ist, wenn die Deutschen sagen, ja, aber jetzt mit der Vergangenheit ist doch mal Schluss, jetzt geht es in die Zukunft, und das als Gegensatz präsentiert wird. Dann hört das Verständnis der Israelis dann in der Regel auf.

Balzer: Ihre Frau ist ja Israelin, und sie war der Grund, nach Israel zu gehen vor ein paar Jahren. Streiten Sie eigentlich noch politisch mit ihr, oder haben Sie sich versöhnt?

Borgstede: Wir streiten eigentlich politisch nicht mehr.

Balzer: Nicht mehr.

Borgstede: Nicht mehr. Zu Anfang haben wir uns politisch gestritten, aber vor allen Dingen, weil ich nicht ausreichend informiert war. Ich war wie so mancher Deutsche, ich will hier nicht verallgemeinern, jemand, der vom Nahost-Konflikt eine sehr dezidierte Meinung hatte, die aber nicht unbedingt durch das entsprechende Wissen abdecken konnte. Und das habe ich bald gemerkt und musste dann nachholen und hab dann viel gelesen, mich viel informiert. Und ich denke, mittlerweile können wir uns auf einem ähnlichen Niveau über diesen Konflikt unterhalten. Und es hat in unserem Fall dazu geführt, dass wir uns auch angenähert haben.

Balzer: Aber trennt er Sie manchmal noch? Trennt Sie manchmal die Geschichte noch?

Borgstede: Ich glaube, es gibt einen Tag, wo sie einen Deutschen in Israel immer von seinem Gastland trennen wird, und das ist der Holocaust-Gedenktag. Wenn da den ganzen Tag nur Holocaust-Dokumentationen im Fernsehen laufen und im Radio nur traurige Lieder gespielt werden, dann merkt man doch die Trennung sehr deutlich, dass, auch wenn ich persönlich natürlich kein Täter bin, ich doch zum Volk der Täter gehöre und der Großteil der Bevölkerung hier zum Volk der Opfer. Und das ist eine Trennung, die wird man niemals wirklich überschreiten können. Und das zu versuchen, wäre auch sicherlich nicht gesund. So bleibe ich auf eine gewisse Art und Weise in Israel doch immer auch ein Außenseiter, obwohl ich das 364 Tage im Jahr nicht wirklich fühle.

Balzer: Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit Michael Borgstede, junger Journalist in Tel Aviv, junger deutscher Journalist in Tel Aviv. Herr Borgstede, es gibt eine Studie der Bertelsmann-Stiftung über das Verhältnis der Israelis zu Deutschland und der Deutschen zu Israel, und vor allem das Verhältnis der Israelis zu Deutschland, sagt diese Studie der Bertelsmann-Stiftung, sei besser geworden. Die Studie sagt zum Beispiel, nur noch neun Prozent der Israelis glauben, man könne sich nicht mit Deutschland versöhnen. Vor 17 Jahren, bei der letzten Studie, waren es immerhin noch 22 Prozent. Ist das die Folge der deutschen Einheit? Trauen die Israelis dem vereinten Deutschland mehr als früher dem geteilten?

Borgstede: Ich glaube, das ist vor allen Dingen der Frage der Zeit. Das hat einfach eine Weile gedauert nach dem Holocaust, bis man sich annähern konnte, bis die Israelis diesem Deutschland auch wieder vertrauen konnten. Die deutsche Einheit war dann eigentlich eher noch mal so ein Höhepunkt, wo man in israelischen Medien auch sehen konnte, hier herrscht doch noch eine große Angst. Am Tag der deutschen Einheit machte die Zeitung "Maariv" mit einer Schlagzeile auf: "Angst vor dem großdeutschen Reich". Da wurden also noch mal wieder alte Ängste geschürt. Es hat sich bald erwiesen, dass diese Ängste unbegründet waren, und so, glaube ich, hat sich dann dieser Annäherungsprozess in den letzten Jahren einfach fortgesetzt, der hat aber vorher schon begonnen.

Balzer: Und dann hat diese Bertelsmann-Studie auch die andere Seite untersucht, und das fand ich sehr interessant, laut dieser Studie zeigten auch die Deutschen mehr Sympathie für Israel als früher. 28 Prozent sympathisieren mit der israelischen Seite, im Gegensatz zu acht Prozent vor 17 Jahren, also das im Vergleich zur palästinensischen Seite, also 28 Prozent der Deutschen eher mit Israel. Das ist interessant, denn wenn man sich so umhört, gewinnt man ja eher den gegenteiligen Eindruck in Deutschland. Die Deutschen stehen Israel eher immer kritischer gegenüber. Wie sehen Sie es?

Borgstede: Ich muss auch sagen, das hat mich auch überrascht. Die gefühlte Wahrnehmung fällt da anders aus. Es gibt vielleicht, ich will diese Studie nicht disqualifizieren, das kann ich nicht, das sind ordentliche Zahlen, die ist gut durchgeführt, aber es gibt vielleicht zwei Punkte, wo man drüber nachdenken muss, ob da vielleicht es mit ganz rechten Dingen zugegangen ist. Denn viele Deutsche haben, glaube ich, wenn zu Israel befragt werden, eine gewisse Hemmschwelle, wirklich zu sagen, was sie denken. Von diesen 28 Prozent, ich weiß nicht, wie viele im Hinterkopf gedacht haben: Darf man denn Israel und die Juden eigentlich kritisieren, ohne dass man nicht gleich Antisemit genannt wird. Und wenn das dann nicht ganz geheim zuging, dann kann es schon sein, dass also da einige Leute ihr Kreuzchen an der anderen Stelle gemacht haben, obwohl sie vielleicht in Wirklichkeit nicht ganz so mit Israel sympathisieren, wie das jetzt in der Studie herauskommt. Auf der anderen Seite sind 28 Prozent von 100 natürlich noch nicht mal ein Drittel. Es wurde in der Studie nicht gefragt, wie viele mit den Palästinensern sympathisieren. Und das hätten ja dann gut 60 Prozent sein können. Das wiederum stellt das Ganze in ein anderes Licht.

Balzer: Fühlen die Deutschen zu wenig für Israel?

Borgstede: Fühlen tun sie, glaube ich, schon zu wenig. Wenn man die Betonung auf das Wort fühlen legt, dann kann man das, glaube ich, so schon sagen. Ich glaube, das größte Problem im deutsch-israelischen Verhältnis ist, dass man den gegenseitigen Ausgangspunkt nicht kennt. Und das sind die Konsequenzen aus dem Zweiten Weltkrieg und aus der Katastrophe der Shoah. Während die Deutschen nämlich damals beschlossen haben, für sich beschlossen haben, nie wieder Krieg, und Krieg ist unter keinen Umständen ein Mittel zur Konfliktlösung, haben die Israelis aus dieser Katastrophe für sie etwas ganz anderes gelernt, nämlich dass sie sich nie wieder hilflos werden hinmorden lassen, und unter Umständen lieber zuerst zuschlagen, als dass sie ihnen so etwas noch einmal geschieht. Und das sind so gegensätzliche Ausgangspunkte, dass da sich eine große Kommunikationsbarriere aufgebaut hat, die sehr schwer zu überwinden ist.

Balzer: Michael Borgstede, ich hab es schon gesagt, Sie sind ja nicht nur Journalist, Sie sind auch Musiker. Sie haben das Gesamtwerk für Cembalo von François Couperin auf elf CDs eingespielt und haben auch dafür sehr viel Lob geerntet von der Kritik. Und die Zeitung "Ha'aretz" hat die Musik im Norden Israels hören lassen und schrieb, diese Einspielung beruhigt das Gemüt, wenn Raketeneinschläge zum Alltag gehören. Hätten Sie gedacht, dass Ihre Musik in so einem Zusammenhang stehen könnte?

Borgstede: Nein, das hatte ich nicht gedacht. Das hatte François Couperin sich vor 300 Jahren sicher auch nicht träumen lassen. Das kam so, der Kulturchef der Zeitung "Ha'aretz", Beni Zifer, hatte sich diese CD von mir geben lassen und wollte sie sich gerne anhören. Und dann brach der Zweite Libanonkrieg aus, und Beni Zifer ist in den Norden gefahren, um da Reportagen aus der Kriegsgegend zu schreiben und hat immer, wenn er von einem Ort zum anderen fuhr, wieder eine CD in seinen Auto-CD-Player gelegt, und neben ihm schlugen wohl Raketen ein, und er schickt dann hinterher, diese Musik habe ein sehr beruhigende Wirkung in Krisengebieten.

Balzer: Was bedeutet Ihnen eigentlich Ihre Musik angesichts dessen, was Sie beschreiben im Ihrem Buch als Alltag im Ausnahmezustand?

Borgstede: Die Musik ist für mich schon so eine Insel der Zuflucht. Denn der Nahost-Konflikt, so interessant das ist, dreht sich doch immer wieder im Kreis, und die Nachrichten, die man darüber berichtet, sind meist nicht gut. Und das ist schon sehr anstrengend, vor allen Dingen, wenn man auch in diesem Alltag lebt und es sehr persönlich nimmt, jeden Tag darüber zu schreiben. Man braucht da einen Ausgleich, etwas ganz anderes, wo man mal vergessen kann, wie schrecklich es in dieser Region zugeht. Und da hilft mir die Musik doch sehr.

Balzer: Michael Borgstede, Danke schön!

Borgstede: Bitte schön!

Balzer: Michael Borgstede, deutscher Journalist und auch Musiker aus Tel Aviv. Sein aktuelles Buch heißt "Leben in Israel - Alltag im Ausnahmezustand" und ist erschienen im Herbig Verlag. Und wie gesagt, er hat auch das gesamte Cembalo-Werk von François Couperin eingespielt auf elf CDs.