Bodo Kirchhoff: "Dämmer und Aufruhr"

Geschichte einer sexuellen Selbstentdeckung

Bodo Kirchhoffs neuer Roman "Dämmer und Aufruhr".
Bodo Kirchhoffs neuer Roman "Dämmer und Aufruhr" © Frankfurter Verlagsanstalt/picture alliance/dpa/Deutschlandradio
Von Jörg Magenau · 05.07.2018
In seinem neuen Roman "Dämmer und Aufruhr" erzählt Bodo Kirchhof unerschrocken und mit Wärme eine Coming-of-Age-Geschichte. Er beschreibt darin auch, wie seine Figur ihren Körper erforscht. Kitsch und Pathos verteilt er dabei in angemessener Dosis.
"Wer spricht da, wenn einer von früher erzählt?" Mit dieser rhetorischen Frage eröffnet Bodo Kirchhoff seinen großen autobiographischen Roman der "frühen Jahre". Dabei ist ganz klar, wer da spricht: Er selbst als der 70 Jahre alte Schriftsteller, der einige spätsommerliche Wochen in einem Hotel im italienischen Alessio verbringt, auf den Spuren seiner Eltern, die dort 1958 ihre vielleicht letzten glücklichen Tage erlebten, bevor die Ehe und die kleine Familie zerbrach. Von diesem Ort aus erinnert sich Kirchhoff seiner Kindheit und Jugend als einer schmerzvollen erotischen und sexuellen Erweckungsgeschichte.
Leidenschaft ist dabei eine Sache, die buchstäblich von Leiden kommt und doch immer auf Lust zielt. Das macht schon die Eingangsszene deutlich, in der der Vierjährige, mal "er", mal "ich" genannt, im Sommerurlaub mit der Mutter das Bett teilt und ihren nackten Körper mit dem Bleistift erkundet, ja, in sie eindringt, nicht mit der spitzen, sondern mit der "guten" Seite, wie die Mutter, die den Moment zu genießen scheint, murmelt. Die ödipale Übertretung ist getragen von kindlicher Unschuld.

Kirchhoff betont das Flirrende, Entdeckerhafte

Kirchhoff betont das Flirrende, Unentschiedene, Schwebende, Entdeckerhafte, wie es jeden erotischen Augenblick auszeichnet. Dass in dieser Urszene Schrift und Körper, Schreibwerkzeug und Lustorgan zur Deckung kommen, ist nicht nur Ausgangspunkt dieser erotischen Biographie, sondern auch der Antrieb fürs Schreiben und vielleicht so etwas wie der Kristallisationspunkt, um den herum das Werk Bodo Kirchhoffs anzuordnen wäre. Geht es darin doch hartnäckig um die komplizierten Verknüpfungen von Sexualität und Liebe – oder den Mangel daran.
Bodo KIRCHHOFF, Deutschland, Autor, Buchpreistraeger 2016, am 19.10.2016 Frankfurter Buchmesse 2016 vom 19.10 - 23.10.2016 in Frankfurt am Main / Deutschland.

Bodo Kirchhoff Germany Author  2016 at 19 10 2016 Frankfurt Book Fair 2016 of 19 10 23 10 2016 in Frankfurt at Main Germany
Bodo Kirchhoff© imago images / Sven Simon
Von dieser Szene aus sind die Linien des Romans klar gezogen: Auf der einen Seite geht es um das Verhältnis des Sohnes zur Mutter bis zu ihrem Tod im Jahr 2016. Der längst zum Schriftsteller gewordene Erzähler besucht die knapp 90jährige regelmäßig in ihrem Pflegeheim, schildert ihren Verfall und ihre zähe Anhänglichkeit ans Leben und findet von da aus – gestützt durch Fotos und frühe Aufzeichnungen der Mutter – zurück in die Familiengeschichte.

Erzählen, ohne zu werten

Der zweite Strang folgt der Entdeckung des eigenen Körpers – eine Geschichte, die ihren tragischen Höhepunkt in einem Internat am Bodensee erfährt, wo Kirchhoff zwischen zehn und dreizehn Jahren von einem Lehrer missbraucht wurde. Davon hat er bereits in seinen Poetikvorlesungen in den 90er Jahren berichtet, und auch in dem Roman "Die Liebe in groben Zügen" kam die Missbrauchsgeschichte fiktionalisiert vor. Nun aber besteht das Wagnis darin, dass Kirchhoff davon als Liebesgeschichte erzählt, als Abhängigkeitsverhältnis, in dem der langhaarige, kettenrauchende Musiklehrer zwar unzweifelhaft ein "Täter" ist, der Junge aber nicht einfach nur dessen Opfer. Er erkundet gewissermaßen unter der Hand und Anleitung des Lehrers durchaus lustvoll die eigene erwachende Sexualität. Er erzählt davon, ohne zu werten. Das ist die große Anstrengung, die der Erzähler unternimmt.
Das Unheil besteht aber genau darin, dass die Sexualität damit von vorn herein an diesen Missbrauch gebunden ist – auch wenn der Junge das nicht unbedingt so erlebte. Vielleicht erklärt sich so der spätere Mangel an Liebesfähigkeit, der den isoliert, nahezu autistisch lebenden Studenten, der sich als Maler begreift, um schließlich zum Schreiben zu finden, immer wieder ins Frankfurter Bahnhofsviertel zu den Prostituierten treibt. Der Schmerz, die Verzweiflung, die Einsamkeit sind sein Antrieb. Er hat erfahren, dass Liebe kein unschuldiges, reines Gefühl ist, sondern ein komplexer, verwickelter Zustand.

Der Autor schreckt vor keinem Abgrund zurück

"Dämmer und Aufruhr" lässt sich als Roman einer schwierigen Adoleszenz ebenso lesen wie als Beglaubigung eines Autors, der seinen Weg zum Schreiben erkundet. Wunderbar ist die Szene, in der Kirchhoff als Soldat der Bundeswehr mit Stiefeln und Uniform vor dem Suhrkamp-Verlagsgebäude in Frankfurt steht und hofft, eines Tages dort zu publizieren. Es dauert aber noch viele Jahre, bis das dann tatsächlich gelingt. Die Geschichte dazu – ein Toter in der Nachbarwohnung des Studenten, den er nicht meldet, sondern im Zerfall beobachtet – ist erstaunlich genug.
Kirchhoff schreckt in "Dämmer und Aufruhr" vor keinem Abgrund zurück. Die Genauigkeit, mit der er Gefühle beschreibt, ist bewundernswert. Er ist im besten Sinne unerschrocken, ohne je die Wärme, die Sehnsucht und das Gefühl für den Mangel zu verlieren. Wenn seine beherrschte Sprache gelegentlich pathetisch und kitschig wird, dann ist das der Sache angemessen. Man liest dieses Buch mit größter Anteilnahme.

Bodo Kirchhoff, "Dämmer und Aufruhr"
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt/Main, 2018
468 Seiten, 28 Euro

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