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Tagebuch eines Todkranken

Von Jörg Magenau  · 09.01.2014
Bereits drei Jahre vor seinem Selbstmord hat Wolfgang Herrndorf im Internet begonnen, eine Art Tagebuch seiner Tumorerkrankung zu schreiben. Jetzt erscheinen seine Texte als Buch.
Dieses Buch gab es schon zuvor, als Blog. Als Wolfgang Herrndorf im März 2010 damit begann, wusste er nicht, wie lange er noch zu leben hätte. Da war er noch nicht der berühmte Autor des Millionenbestsellers "Tschick", sondern ziemlich unbekannt. Er hatte gerade die Diagnose Gehirntumor erhalten, eine erste OP hinter sich und eine statistische Lebenserwartung irgendwo zwischen ein paar Monaten und anderthalb Jahren. Er beschloss, über seine Situation zu schreiben, zunächst nur als Information in einem Forum für Freunde, bald aber auch für die weitere Öffentlichkeit. Man konnte Tag für Tag mitlesen in diesem Bericht von einer Krankheit zum angekündigten Tode, der Chronik eines Sterbens.
"Arbeit und Struktur" nannte Herrndorf sein Blog, und so heißt nun auch das Buch, das man aber anders liest als die Einträge im Netz, kontinuierlich in einem Zug statt alle paar Wochen mal vorbeischauend wie’s ihm wohl geht, romanhafter, dichter und vielleicht etwas weniger voyeuristisch, Anteil nehmend in jedem Fall, vor allem aber jetzt mit dem Wissen um das Ende, das Herrndorf lange schon vorausgeplant hat. Die Pistole, mit der er sich im August 2013 am Hohenzollernkanal in Berlin erschoss, besorgte er sich schon im Sommer 2010 und schrieb auch darüber. „Exitstrategie“ nannte er das. Es hatte eine beruhigende Wirkung auf ihn, wenn er die Waffe in die Hand nahm und das Gefühl haben konnte, damit auch den eigenen Tod in der Hand behalten zu können. Als er es dann wirklich tat, waren alle erschrocken. Dabei hat er den finalen Akt lange geplant und genau so angekündigt als seine Tat.
Der verzweifelte Humor eines Nihilisten
Denn darum geht es in dieser Geschichte: Um die Verteidigung der eigenen Souveränität und Handlungsfähigkeit. Herrndorf beschreibt den Prozess des unaufhaltsamen Verfalls seiner körperlichen und sprachlichen und geistigen Fähigkeiten und die Verteidigung dessen, was "Ich" zu nennen ihm am Ende kaum noch möglich war. "Das Gemüse, das einmal meinen Namen trug", schrieb er da mit dem sarkastischen, verzweifelten Humor eines Nihilisten, der auf metaphysischen Trost verzichtet und in allen Dingen eine „Durchscheinigkeit“ entdeckt: „das durch die Dinge durchscheinende Nichts“. So erlebte er auch den eigenen Körper, wenn es ihm so vorkam, als ob man da ganze Kabelstränge aus den Buchsen im Gehirn gerissen habe.
Er litt unter Orientierungsschwierigkeiten, fand nicht mehr nach Hause, epileptische Anfälle und motorische Störungen kamen hinzu, so dass er irgendwann auch nicht mehr Fußball spielen konnte. Am schlimmsten aber war wohl der allmähliche Verlust der Sprache, das Verschwinden der Worte, Namen, Bezeichnungen. Dagegen setzte er bis zuletzt die Arbeit, das Schreiben. Dass er den heiteren Jugendroman "Tschick" und das finstere Gegenstück "Sand" fertigstellte, ist einer enormen Disziplin zu verdanken und dem Entschluss, sich mit Arbeit zu strukturieren. Das Schreiben gab ihm – neben all den Freunden, die sich um ihn sorgten – den nötigen Halt. Und auch wenn er das Schreiben von Büchern genauso sinnlos fand, wie die sinnlose, bald ausgelöschte Existenz in einem sinnlosen, unbeteiligten Universum, hielt er daran fest, weil es etwas anders nicht gab.
Er neigte weder zu Heroismus, noch zu Selbstmitleid. Er blieb ein präziser Beobachter seiner selbst. Und das ist das eigentlich Erstaunliche an diesem Text: Dass es im fortschreitenden Zerfall des Bewusstseins immer noch eine Instanz gibt, die das alles beobachtet und aufschreibt, als bliebe sie selbst von der Auflösung unangetastet. Dieser Punkt, so eine Art Bewusstsein neben dem Bewusstsein, ist die Stelle im Universum, um die es geht: Von hier aus lassen sich, auch wenn der Körper den Dienst versagt, Freiheit und „Ich“ verteidigen. Herrndorf spricht das nirgendwo aus; das wäre ihm schon zu pathetisch. Aber gäbe es diesem hart verteidigten Standpunkt des ungerührten Beobachters nicht, dann würde es auch "Arbeit und Struktur" nicht geben. Das macht aus diesen tagebuchartigen Aufzeichnungen große, unverzichtbare, existentielle Literatur.

Wolfgang Herrndorf: Arbeit und Struktur
Rowohlt Berlin, Berlin 2013
448 Seiten, 19,95 Euro

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