Blinde Bürokratie

Von Manuel Waltz · 17.02.2012
Bildhauerviertel, so haben Anwohner ihren Stadtteil im Westen von Leipzig vor einigen Jahren getauft. Ein Künstlerviertel war es zu diesem Zeitpunkt noch lange nicht, es gab mehr leere und verfallene Häuser als bewohnte in der Gegend, besonders in der Josephstraße.
Sven Riemer wohnt hier, er hat mit daran gearbeitet, dass es heute nicht mehr so ist:

"Es gab eigentlich keinen Grund hier unbedingt durch die Josephstraße laufen zu wollen, geschweige denn hier wohnen zu wollen, in welcher Form auch immer. Und durch diese verschiedensten Aktivitäten - Workshopreihen, Ausstellungen und Wiederbelebungsversuche hat sich das Blatt gewandelt."

Bei diesen Aktivitäten wurden Sven Riemer und einige andere auf das Grundstück Josephstraße 7 aufmerksam. Hier stand früher ein Haus, das bis 1938 jüdische Besitzer und jüdische Bewohner hatte. Und auch seit dem Ende der DDR hat es eine sehr bewegt Geschichte, wie sie bald herausfanden:

"Den Stein ins Rollen gebracht hat glaube ich schon der Brief von der Frau Schinagel, die eben sehr detailliert in diesem Brief erzählt, oder niederschreibt, wie diese Geschichte vonstattengegangen ist und jeder, der diesen Brief liest natürlich auch wirklich stark emotional betroffen ist."

Was war passiert? 1938 wurden die Bewohner und Besitzer des Hauses von den Nazis deportiert, fast alle von ihnen wurden ermordet, das Haus enteignet. Nach dem Krieg blieb es verstaatlicht und verfiel wie fast der gesamte Altbaubestand der DDR. In den 90er-Jahren fand die Stadt Leipzig in Anita Schinagel dann eine Erbin der Josephstraße 7. Sie war fast 90-Jahre alt und lebte in New York. Zusammen mit ihren beiden Neffen nahm sie das Haus zurück, allerdings war es nicht mehr bewohnt und so baufällig, dass die Stadt es bald einreißen ließ. Anita Schinagel erhielt die Rechnung für den Abriss und ausstehende Steuern. Auf diese Rechnung der Stadt Leipzig antwortete sie mit einem Brief. Darin schrieb sie:

"Unser Haus war im Oktober 1938, wo wir verschleppt wurden, im besten Zustand, die Wohnungen waren vermietet, die Geschäftsräume auch. Wenn die Deutschen in 1991 uns das Haus zurückgaben, wurde uns nicht gesagt, dass die Kommunisten und Nazis das Haus vollkommen zerbrochen haben, und wir Erben es nicht verkaufen können und jetzt verlangen Sie Steuern von mir und meinen beiden Neffen? Wo ist die Gerechtigkeit?

Nehmen Sie das Haus zurück und geben Sie uns bitte, was Sie wollen. Ich bin eine alte Frau und habe so viel mitmachen müssen! Ich habe keine Zukunft mehr und kann nicht mehr kämpfen. Ich bitte Sie mir nicht mehr zu schreiben, nur wenn es etwas Gutes ist. Ich könnte einen Herzschlag kriegen, und das wollen Sie bestimmt nicht."


Dies war eine Reaktion, mit der die Stadt nicht gerechnet hatte und mit der die Bürokratie in Leipzig nur schwer umgehen konnte, wie Birgit Seeberger berichtet. Sie ist im Amt für Stadterneuerung und Wohnungsbauförderung für das Gebiet zuständig:

"Wenn man diesen Brief ließt, das berührt natürlich schon, klar, das hat auch alle berührt. Auch aber in der Verwaltung dann der Umgang damit, da gibt es kein Patentrezept und da gibt es keine Instanz oder so."

Allerdings ging die Stadt dennoch wie in jedem anderen Fall vor: Sie mahnte die fälligen Kosten ein. Als die Erben nicht zahlten, folgte der nächste Schritt: die Zwangsversteigerung. Der Erlös sollte an die Stadt gehen. Brigit Seeberger zu dem Vorgehen der Stadt:

"Man muss damit sensibel umgehen aber nichtsdestotrotz war das eine bewusste Entscheidung der Nachfahren das Eigentum wieder anzunehmen und damit ist man im Boot und damit ist man auch bestimmten Verpflichtungen ausgesetzt, das muss man trennen, das muss man einfach auch mal sachlich trennen. Also da kann man nicht sagen, oh da müssen wir dann jetzt andere Maßstäbe anlegen."

Direkt gegenüber der Josephstraße 7 hat sich mit dem Casablanca e.V. in der Zwischenzeit ein linkes Wohnprojekt niedergelassen. Die Mitglieder bewohnen nun das Haus und betreiben einen offenen politischen Raum. Vor allem sie waren es, die sich dafür ausgesprochen haben, hier eben doch andere Maßstäbe anzusetzen, wie Theo Höpke berichtet:

"Ich würde mir natürlich viel, viel mehr Sensibilität wünschen bei diesem Thema und keine Paragrafenreiterei, sondern eine umfassenderes Bild, welche Geschichte da dran hängt."

Aus diesem Grund haben Theo Höpke und andere einen Verein gegründet, der zum Ziel hat, auf dem Grundstück einen jüdischen Gedenkort zu errichten und zu betreiben. Die Stadt hat unter dem Druck der Initiatoren die Zwangsversteigerung ausgesetzt und die Schulden vorerst gestundet. Theo Höpke steht vor dem Grundstück, das noch mit einem Zaun abgesperrt ist.

"Im Moment sieht man noch nicht sehr viel, es wurde schon ein bisschen angefangen in verschiedenen Möglichkeiten, also es wurde eine Hecke gepflanzt, es wurde eine Tür hingestellt, gezimmert mit der Hausnummer, was nicht die originale Tür ist, die war viel breiter."

Brisant an dem Standort im Stadtteil Lindenau ist, dass die NPD in Sichtweite ein Zentrum unterhält. Immer wieder kommt es zu Ausschreitungen zwischen Passanten und NPD-Leuten. Theo Höpke und die anderen Streiter für einen Gedenkort sind sich durchaus bewusst, dass es zu Übergriffen kommen kann, wie Theo bestätigt:

"Es ist nicht unwahrscheinlich, klar, und die Neo-Nazi-Präsenz hier oder Nazipräsenz in Lindenau macht es noch wahrscheinlicher."

Dennoch soll der Gedenkort explizit offen gestaltet werden. Wenn alles gut geht, werden die Bauarbeiten bald beginnen, denn die Stadt hat mittlerweile sogar Gelder bereitgestellt. Die Mitglieder des Vereins arbeiten zusammen mit einer Architektin an der Gestaltung.

"Zwei Ideen stecken dahinter, einerseits, dass man einen Gedenkort hat, den man sehen kann der größer ist als nur ein Stein und auf der anderen Seite die Möglichkeit, zu lernen also den Ort zu begehen und sich vorzustellen, wie das war, wie das Haus ausgesehen hat, welche Familie hier gelebt hat."