Blick aus dem Hinterzimmer der Macht

Rezensiert von Gregor Ziolkowski · 16.03.2006
Zum 100. Geburtstag von Francisca Ayala am 16. März publiziert der Manese Verleg die deutsche Erstübersetzung des Romans "Wie Hunde sterben", der im Lateinamerika der 50er Jahre verortet ist. Ayala beschreibt in abstrakter Manier eine lateinamerikanische Diktatur aus der Perspektive der Hinterzimmer. Die Affären der First Lady spielen ebenso eine Rolle wie die Machtgelüste der Prätendenten und die Aufzeichnungen des Präsidenten-Sekretärs.
Er habe sich gleichsam selbst überlebt, kommentiert der 100-jährige Francisco Ayala sein hohes Alter und fügt verschmitzt hinzu, ihm sei das sogar ein bisschen peinlich. Denn immer, wenn er jemanden treffe, den er länger nicht gesehen habe, meine er, im Gesicht des anderen die nicht ausgesprochene Frage zu lesen: "Was machen Sie noch hier?"

Wer soviel selbstironische Distanz aufbringt, der lässt in jener Mischung aus ernsthafter Ergriffenheit und amüsierter Gelassenheit, wie sie wohl nur das Alter verleihen kann, all die Ehrungen, Kongresse und Empfänge über sich ergehen, die aus Anlass des Jubiläums veranstaltet werden. Aber ein Leben kann man so oder so verbringen:

Francisco Ayala schaut auf eines zurück, das nicht arm war an Wechselfällen. 1906 in Granada in "gutem Haus" geboren, kommt er Anfang der 20er Jahre nach Madrid, wohin die Familie übersiedelt, weil ihr Besitz nach wenig erfolgreichen Geschäften des Vaters zerschmolzen ist, und weil dort die Möglichkeiten des Gelderwerbs vielversprechender sind.

Er studiert Jura, Philosophie und Literatur, veröffentlicht im Alter von 19 Jahren seinen ersten Roman und wird sofort ernst genommen als ein Literat mit Zukunft. Das hat sehr konkrete Folgen: die Einladung etwa zur tertulia, zum Gesprächskreis, des Philosophen José Ortega y Gasset und zur Mitarbeit an dessen Zeitschrift Revista de Occidente, dem prestigeträchtigsten Publikationsorgan jener Zeit.

Das Jahr 1929 führt ihn nach Berlin - hier ereignet sich vielleicht so etwas wie eine Urerfahrung, die Ayala in seinen Memoiren beschrieben hat: Kaum ausgestiegen am Bahnhof Friedrichstraße, sieht er die ersten Transvestiten seines Lebens. Das Öffnungserlebnis hätte größer kaum sein können. Der junge Mann aus dem katholisch abgeschotteten, dabei diktatorisch regierten Spanien (Primo de Rivera) betritt eine Welt, die ihm signalisiert, dass alles, aber auch alles, vielleicht nur eine Frage des Standpunktes, der eigenen Verortung ist. Zurück in Madrid, wird er Professor für Völkerrecht.

Als solcher reist er zu einer Vortragsreihe nach Lateinamerika, kurz bevor der Spanische Bürgerkrieg ausbricht. Er kehrt zurück nach Spanien und arbeitet – unter anderem als diplomatischer Sondeur - für die republikanische Regierung. Als 1939 die Niederlage besiegelt ist, gelingt ihm die direkte Flucht zurück nach Lateinamerika, der Leidensweg über die Grenze nach Frankreich - in die Internierungslager - bleibt ihm und seiner Familie somit erspart.

Chile, Argentinien, Puerto Rico, schließlich die USA sind Stationen seines Exils, das bis zum Ende der Franco-Diktatur im Jahr 1975 andauert, auch wenn er seit 1960 - als Bürger der USA - Spanien wieder bereist.

Der Berlin-Aufenthalt hat in den Jahren des Exils Folgen: Ayala übersetzt Rilke, Thomas Mann und Kafka. 1976 kehrt er endgültig nach Spanien zurück. Von da an erscheinen seine Werke auch in Spanien, die ihm – spät, aber rechtzeitig – die höchsten Ehrungen eintragen: Akademiemitgliedschaft (in der Real Academia Española, 1984), Nationalpreis für Literatur (1988), Cervantes-Preis (1991), Prinz-von-Asturien-Preis (1998).

Gemessen an seinen biographischen Erfahrungen als Exilant, überrascht an Ayalas literarischen Texten zunächst eines: Sie sind gänzlich unpolitisch. Das Trauma des Bürgerkriegs und seiner Folgen als das zentrale - und von Ayala am eigenen Leib erfahrene - Motiv der spanischen Geschichte des 20. Jahrhunderts übersetzt sich in seinen Texten in eine existentielle, aber nicht vordergründig politische Thematik.

Die Erzählung "Der Kopf des Lammes", die dem Erzählungsband von 2003 (Manesse, span. Original 1949) den Titel gab, kommt zögerlich, fast umständlich, an eben jenen Punkt: Der spanische Reisende, der in Marokko geschäftlich unterwegs ist, wird in ein Haus geladen, dessen Bewohner behaupten, ein Zweig seiner Familie zu sein.

Ungläubig, aber hingerissen, überzeugt schließlich, dass man diese Familiengeschichte durchaus als echt ansehen könnte, erwacht der Ich-Erzähler nach einem üppigen Abendessen mit seiner mutmaßlichen Familie aus einem Alptraum: Unverdaut wie das fettreiche Essen, stehen die eigenen zweifelhaften Handlungen während des Bürgerkriegs plötzlich vor ihm. Selbstanklage und Rechtfertigung, Überlebenswillen und zweifelhafter Kompromiss stehen als Clou der Erzählung wie aus dem Nichts hervorgegangen im Raum.

Auch der Roman "Wie Hunde sterben" (Manesse 2006, span. Original 1958) verzichtet auf politische Zuschreibungen. In abstrakter Manier wird eine - offenbar lateinamerikanische - Diktatur beschrieben, und zwar gleichsam aus der Perspektive der Hinterzimmer. Die Affären der First Lady spielen ebenso eine Rolle wie die Machtgelüste der Prätendenten und vor allem: die Aufzeichnungen des Präsidenten-Sekretärs.

Ayala hat damit letztlich den Reigen der Diktatorenromane fortgesetzt, den man in Deutschland - und auch anderswo - für ein lateinamerikanisches Genre hält, das aber seinen Ursprung in Spanien hat, wie der Autor des Nachworts, Hanjo Kesting, unterstreicht: Valle-Incláns Tirano Banderas stand ganz am Anfang dieser fast schon eigenen Gattung.

Wer die Faszination ergründen will, die von den Texten Ayalas ausgeht, wird darauf stoßen, dass dieser Autor sich nie als professioneller Schriftsteller gesehen hat. Unterwegs als Gastdozent oder Professor für Soziologie, war ihm Literatur immer etwas Höheres, Luxuriöseres, etwas, wofür man sich Reife-Zeit und das Hervorbringen eines eigenen Tones lassen sollte. Ein ausgefeiltes, dabei schmales und tiefgründiges Werk ist auf diese Weise entstanden.


Francisco Ayala: Wie Hunde sterben.
Roman. Aus dem Spanischen von Erna Brandenberger.
Mit einem Nachwort von Hanjo Kesting.
Manesse Verlag, Zürich 2006.
385 Seiten, 19,90 Euro.