Bleiernes Schweigen, wacher Blick

13.11.2013
Was macht Menschen in Extremsituationen stark? Das beschäftigt den Psychoanalytiker Boris Cyrulnik seit langem. Mit 76 Jahren stellt er die Frage zum ersten Mal sich selbst: Eine Erinnerung an traumatische Erlebnisse in seiner Kindheit.
Januar 1944. In Bordeaux treiben deutsche Besatzer die Juden der Stadt in die Synagoge, um sie nach Auschwitz zu deportieren. Ein sechsjähriger Junge klemmt sich im Pissoir hinter ein paar zusammengenagelte Bretter. Irgendwann ist alles still. Langsam geht er durch den leeren, lichtdurchfluteten Gebetsraum die weite Treppe hinunter ins Freie.

"Die Kraft, die im Unglück liegt", "Warum die Liebe Wunden heilt", "Scham: Im Bann des Schweigens", so heißen die Bücher des französischen Psychoanalytikers Boris Cyrulnik. Jahrzehntelang erforschte er das Phänomen der "Resilienz" ‒ der psychischen Widerstandsfähigkeit. Doch er selbst hat bis jetzt geschwiegen. Sein neues Buch "Rette dich, das Leben ruft" ist das bewegende Zeugnis eines Überlebenden und eine differenzierte Reflexion darüber, was es bedeutet: zu erinnern, zu gedenken, Entsetzliches zu überstehen.

Erst nach dem Krieg habe sich seine Traumatisierung ereignet, beobachtet der Autor erstaunt. Zuvor überschlugen sich die Ereignisse ‒ Flucht, Menschen, die ihn versteckten, eine riesige Armee auf seinen Fersen. Die abenteuerverliebten Fantasien des kleinen Jungen verschmolzen mit seiner unbedingten Bereitschaft, sich wohlmeinenden Fremden anzuvertrauen. Doch der Frieden brachte bleiernes Schweigen. Mit wem auch immer Boris Cyrulnik zu sprechen versuchte, die Reaktionen ‒ Schreckstarre, Ausweichen, übergroße Betroffenheit ‒ wiesen ihm einen Platz so weit außerhalb jeder kommunikativen Normalität zu, dass er lieber in Schweigen verfiel.

Wer aber schweigt, dessen Erinnerungen können sich nicht weiter entwickeln ‒ sie erstarren zum Trauma. Erzählen und Erinnern hingegen sind Akte der Aneignung und Transformation. Das Gedächtnis eines gesunden, sozial gut eingebundenen Menschen fädelt die Wechselfälle des Lebens zu plausiblen Geschichten auf, die Sinn stiften und die eigene Person beschützen und bestärken. Resilienz sei keine mystische Persönlichkeitszutat des Kindes, betont Boris Cyrulnik, sondern die Fähigkeit, Vergangenes kreativ in das aktuelle Leben zu integrieren.

In seinem Buch spürt der Autor seinem eigenen Heilungsprozess nach und er tut dies mit einer leisen, präzisen, leicht lakonischen Haltung und Sprache. Immer wieder kehrt er im Geist und später auch real an die Orte seiner Flucht und Verfolgung zurück, umkreist sie mit wachem Blick, spricht mit Freundinnen und Freunden, Verwandten, Leidensgefährten von damals ‒ oft zum ersten Mal. So legt er Erinnerungsschicht auf Erinnerungsschicht. Ragte die Treppe vor der Synagoge wirklich steil hinunter, ein mächtiger Fluchtweg in die Freiheit? Als er wieder davor steht, sind es nur ein paar schiefe Stufen. Rief der SS-Mann ihn wirklich freundlich zu sich und zeigte ihm ein Foto von seinem eigenen Sohn? Oder erfand sich der kleine Junge inmitten des Grauens ein Zeichen der Zuwendung?

Wer hasst, bleibt in der Vergangenheit gefangen, beschließt Boris Cyrulnik sein Buch und wahrt doch Distanz: Die heilende Alternative zum Hass sei nicht die Vergebung, sondern das Begreifen.

Besprochen von Susanne Billig

Boris Cyrulnik: Rette dich, das Leben ruft
Aus dem Französischen von Hainer Kober
Ullstein Verlag, Berlin 2013
304 Seiten, 19,99 Euro