Birte Förster: "1919: Ein Kontinent erfindet sich neu"

Europa im Umbruch

Juni 1919: Der britische Premier Lloyd George, Italiens Premier Vittorio Orlando, Frankreichs George Clemenceau und der amerikanische Präsident Woodrow Wilson bei der Versailler Friedenskonferenz.
Juni 1919: Der britische Premier Lloyd George, Italiens Premier Vittorio Orlando, Frankreichs George Clemenceau und der amerikanische Präsident Woodrow Wilson bei der Versailler Friedenskonferenz. © imago
Birte Förster im Gespräch mit Andrea Gerk · 13.12.2018
1919 war ein Jahr großer Veränderungen: Mit dem Versailler Vertrag und der Gründung des Völkerbunds sollte die internationale Ordnung neu geregelt werden. Und auch in der Kunst versuchte man, die Welt neu zu erfinden, erklärt die Historikerin Birte Förster.
Andrea Gerk: Vor 100 Jahren erfand sich Europa neu, denn mit dem Jahr 1919 und dem Ende des Ersten Weltkriegs standen die Uhren gleichsam auf null. Es wurden neue Parteien und Organisationen wie der Völkerbund gegründet, das Frauenwahlrecht wurde eingeführt und über Demokratie und das Rätesystem debattiert. Zugleich entstanden auch radikale Bewegungen wie Mussolinis Faschistenbund oder die Dritte Kommunistische Internationale, die Lenin in Moskau gründete.
Die Historikerin Birte Förster hat sich mit der globalen Dimension dieses besonderen Jahres auseinandergesetzt. "1919: Ein Kontinent erfindet sich neu" heißt ihr Buch, und ich bin jetzt mit ihr in einem Studio in Darmstadt verbunden. Herzlich willkommen, Frau Förster, hallo!
Birte Förster: Vielen Dank!
Gerk: Immer wieder beziehen sich ja heutzutage Politiker oder auch jetzt gerade die demonstrierenden "Gelbwesten" auf diese Umbruchszeit nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, und da wird dann auf Parallelen zur Weimarer Republik hingewiesen. Können Sie denn als Historikerin das überhaupt nachvollziehen, gibt es da überhaupt so augenscheinliche Parallelen?

Vorstellung eines ethnisch einheitlichen Staates

Förster: Also ich glaube, ganz grundsätzlich muss man erst mal überlegen, wem dient denn dieser Vergleich mit der Vergangenheit heute? Meistens haben diese Vergleiche nämlich wenig mit der Vergangenheit zu tun, sondern eher mit der Gegenwart. Wo es vielleicht Ähnlichkeiten gibt, ist, dass nach dem Ersten Weltkrieg mit dem Schlagwort "Selbstbestimmungsrecht der Völker" so eine Vorstellung sich endgültig durchgesetzt hat, dass ein Nationalstaat möglichst ethnisch einheitlich sein soll. Die Vorstellung gibt es erst seit ungefähr 1910, und die setzt sich dann durch.
Und da kann man vielleicht in der Gegenwart beobachten, dass es sowas gibt wie eine Fiktion, diese Vorstellung, ein Nationalstaat sei nur einer einzigen ethnischen Gruppe zuzuordnen. Das findet man nicht nur in diesen identitären und rechtspopulistischen Bewegungen, sondern auch in den Bestrebungen, die EU zu verlassen – Beispiel Großbritannien –, und man kann ja nun seit der letzten Woche sehr gut beobachten, in was für ein Chaos der Brexit Großbritannien gestürzt hat.
Gerk: Wo sehen Sie denn klare Unterschiede oder auch Unvergleichbarkeiten, wenn Sie solche Vergleiche hören?
Förster: Was einfach ganz und gar unvergleichbar ist: 1919 befindet sich Europa im ersten Nachkriegsjahr nach einem hochtechnisierten, vier Jahre andauernden Krieg, der Millionen von Opfer gekostet hat, und das ist natürlich heute überhaupt nicht unsere Situation in Europa.
Gerk: Wenn wir mal konkret auf Ihr Buch schauen, dann nehmen Sie ja ganz viele wichtige Ereignisse in den Blick, und nächstes Jahr werden sicher viele davon auch im Rahmen von 100-Jahr-Feiern begangen. Was ist denn so ein Datum für Sie, aus dem Jahr 1919, aus globaler Sicht, für Sie das Wichtigste?

1919 ist Paris die Hauptstadt der Welt

Förster: Das kann man vielleicht gar nicht auf ein einziges Datum beziehen, aber 1919 ist Paris die Hauptstadt der Welt. Da werden die verschiedenen Friedensverträge geschlossen nach dem Ersten Weltkrieg, und das erste Mal kommt ein amtierender amerikanischer Präsident nach Europa, und Woodrow Wilson, dieser Präsident, wird wie ein Star empfangen. Der kommt schon Ende 1918 an und reist durch die Siegerstaaten Italien, Frankreich, Großbritannien, und überall erwarten ihn jubelnde Mengen, weil sehr viel Hoffnung auf diese Person gesetzt wird, nun eine ganz neue Ordnung für Europa zu bringen, und der Völkerbund, der ja nun auch diese globale Dimension der Friedensverträge abbildet, der ist ja ein Anliegen, das Wilson vorantreibt. Der hat versucht, über die Friedensverträge hinaus eine neue Ordnung zu etablieren.
Der junge Diplomat Harold Nicholson, der ist der Teil der britischen Delegation, und der sagt, wir kommen jetzt hierhin und wir werden die Welt neu ordnen. Also tatsächlich gibt es diesen Pathos auch der Friedensverträge.
Die globale Dimension ist auch daran zu sehen, einmal durch die Gründung des Völkerbundes, es wird die internationale Arbeiterorganisation gegründet, die Rechte für Arbeiter weltweit sichern soll, und es wird aber auch das koloniale Erbe des deutschen Kaiserreichs bearbeitet, und das wird eben nicht, wie Großbritannien und Frankreich das gerne hätten, die hätten gerne diese Gebiete ihrem Kolonialreich zugeschlagen, aber Woodrow Wilson sagt nein, das machen wir nicht, diese Gebiete werden Mandatsgebiete des Völkerbundes.

Selbstbestimmungsrecht der Völker

Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, was er verspricht, das möchten auch gerne Menschen aus den Kolonien für sich beanspruchen. Es gibt ganz viele Briefe, die Wilson bekommen hat, zum Beispiel von einem jungen vietnamesischen Küchengehilfen, der in Paris arbeitet, der gerne den Vietnam unabhängig sähe, und der schreibt an Wilson und bittet um ein Gespräch, und das ist der, der später als Ho Chi Minh weltbekannt wird, und auch berüchtigt.
In Amritsar kommt es zu Aufständen gegen die Kolonialherrschaft, in Kairo, also weltweit gibt es so eine Bewegung: ja, wir wollen auch selbstbestimmt sein, auch die kolonialen Völker nehmen diesen Gedanken auf.
Gerk: Und es gibt ja überhaupt, habe ich in Ihrem Buch auch noch mal so gelernt, sehr viele Konflikte, viel Gewalt und Krieg in vielen Gebieten Europas, die trotz dieser Friedensverträge von Versailles und dem Ende des Ersten Weltkriegs stattfinden. Also so ganz friedlich war das ja dann doch gar nicht.
Förster: Ja, das sagt Käthe Kollwitz auch ganz deutlich in ihrem Tagebuch: Also der Krieg ist zu Ende, aber die Gewalt hört nicht auf. Man muss wissen, in Osteuropa gibt es mehrere zerfallene Großreiche: das russische Zarenreich – das ist ja schon 1917 mit der Revolution zerfallen –, Österreich-Ungarn zerfällt und auch das Osmanische Reich, und in diesen ost- und südosteuropäischen Gebieten entstehen zahlreiche neue Nationalstaaten, aber zum Teil auch durch gewaltsame Auseinandersetzungen.

Zwangsmigration der Griechen

Ein ganz schlagendes Beispiel ist noch der griechisch-türkische Krieg, bei dem Griechenland mit Unterstützung durchaus der Briten die kleinasiatische Küste besetzt – die Stadt Smyrna, das heutige Izmir –, und dann entbrennt ein Krieg, der darin endet, dass es zur Zwangsmigration der 1,2 Millionen Griechen aus der Türkei und zur Zwangsmigration der 400.000 Türken aus Griechenland kommt. Das ist das erste Mal, dass, sanktioniert vom Völkerbund, ethnische Säuberungen vertraglich festgelegt werden und als legitimes Mittel auch der Politik betrachtet werden, mit katastrophalen Folgen vor allen Dingen für die Griechen.
Griechenland hat nur viereinhalb Millionen Menschen überhaupt als Bevölkerung, und die können diese 1,2 Millionen Zuwanderer überhaupt nicht bewältigen. Die leben in Armut danach, die verlieren alles, weil sie zwangsmigrieren müssen und werden in schwere persönliche Krisen wirtschaftlicher Art und auch anderer gestürzt.
Gerk: Birte Förster, Sie haben gerade schon Käthe Kollwitz genannt, und das fand ich in Ihrem Buch auch sehr schön, dass Sie auch sehr auf künstlerische Strömungen eingehen, also zum Beispiel an Dada erinnern, an das Bauhaus. Also auch da versuchte man ja die Welt neu zu erfinden. Die Wahrnehmung war eine völlig andere, Sie zitieren Virginia Woolf oder Sie gehen auf Einstein und auf die Luftfahrt ein. Was ist denn für Sie als Historikerin eigentlich anders, wenn Sie mit solchen Quellen, zum Beispiel von Literaten oder Künstlern arbeiten? Inwiefern hat das eine andere Aussagekraft als andere Quellen, die Historiker nutzen?
Förster: Also benutzt habe ich ja Tagebücher und Briefe. Also es ist nicht so viel anders. Allerdings wenn Sie jetzt Virginia Woolf erwähnt haben, die hat einen sehr distanzierten Blick auf das Geschehen. Sie beschreibt zum Beispiel die Siegesfeierlichkeiten in Großbritannien im Juli 1919, und da beschreibt sie, wie die schwerkranken Soldaten in Richmond, wo sie wohnt, in der Nähe von London, wie die sich abwenden, als es das Feuerwerk und die Parade gibt.
Diese Erfahrung, die baut sie später dann in ihren Roman "Mrs Dalloway" ein. Da gibt es eine Figur eines schwertraumatisierten Soldaten, der nicht darüber hinwegkommt, dass sein Freund gefallen ist. Gleichzeitig bildet sie in dem Roman aber auch die fragmentierte Wahrnehmung der Welt ab. Da geht es ja ständig darum, wie Vergangenheit und Gegenwart bei den Figuren ineinanderfließen, wie sie wahrnehmen.

Einstein wirbelt alles durcheinander

Da ist Einstein natürlich ganz wichtig, denn 1919 gibt es eine sehr lange Sonnenfinsternis – sechs Minuten –, und die ist der empirische Beweis für die Relativitätstheorie von Albert Einstein. Der wird Ende 1919 zum Superstar der Wissenschaft. Das nehmen Künstler wiederum auf und auch Architekten. Also Sie haben ja das Bauhaus angesprochen, die so Vorstellungen davon haben, dass der Raum nicht fest ist und fließt, und versuchen, diese Vorstellung, dass das Raum-Zeit-Kontinuum durcheinandergewirbelt wird durch diesen Beleg von Einsteins Theorie, zu sagen, wir müssen auch in der Architektur anders bauen, und wir wollen überhaupt die Welt gestalten mit unseren künstlerischen Mitteln.
Also, viele Menschen haben diesen Anspruch kurz nach dem Ersten Weltkrieg, die Welt gestalten zu wollen, und eben auch Künstler.
Gerk: Und was ja auch ordentlich durcheinanderkommt – endlich möchte man sagen –, ist das Geschlechterverhältnis in dieser Zeit, und da treten – fand ich angenehm – bei Ihnen auch Frauen ganz selbstverständlich auf als Protagonistinnen der Geschichte. Sie haben deren Rolle eigentlich immer fest im Blick, erzählen zum Beispiel, dass sie zwar das Wahlrecht bekommen haben, aber bei diesen Friedenskonferenzen von Versailles keine einzige Frau mit am Tisch saß. Das, habe ich gedacht, ist ja auch in historischen Büchern noch immer gar nicht so selbstverständlich, dass da Frauen auch mitbedacht und miterzählt werden. Ist das noch was Bemerkenswertes in Ihrer Historikerinnenzunft?
Förster: 1919 entscheiden nur die Männer in Paris, und Frauen versuchen aber, Lobbyarbeit zu betreiben. Die internationale Frauenwahlrechtsorganisation reist nach Paris und sagt: Wir wollen jetzt flächendeckend in Europa das Frauenwahlrecht einführen. Das ist in ganz vielen Ländern gekommen. Deswegen gibt es auch 1919 einen Demokratisierungsschub gerade für Frauen.
Da sagt Wilson, nein, das sind alles nationale Angelegenheiten, die behandeln wir hier nicht, und er schlägt dann vor, dass die Männer eine Frauenkommission für Frauenangelegenheiten bilden, und die Frauen sollen diese Männer beraten, aber die anderen Siegermächte akzeptieren nicht mal das und sagen, Friedensverträge sind keine Angelegenheiten für Frauen.

Frauen halten eigene Friedenskonferenz ab

Das wollen die Frauen aber nicht auf sich sitzen lassen, die machen eine eigene Friedenskonferenz in Zürich mit sehr, sehr progressiven Forderungen. Die sagen zum Beispiel, wir wollen, dass alle Kolonien Mandatsgebiete werden des Völkerbundes. Im Grunde wollen die gerne dieses Ende der Kolonialimperien damit einläuten.
Die sagen auch, das Wahlrecht für Frauen ist nur ein Mittel zum Zweck, wir müssen hier noch weiter an den besseren Rechten für Frauen arbeiten, und da tritt auch eine Afroamerikanerin auf, nämlich Mary Church Terrell, und die ruft ihre weißen Schwestern, wie sie die nennt, dazu auf, ihre Kinder antirassistisch zu erziehen und sagt, nur so ist ein dauerhafter Friede möglich.
Diese internationale Organisation, "Frauenliga für Freiheit und Frieden" heißt die, die arbeitet sehr stark daran, was wir heute gerade gefeiert haben oder in dieser Woche, nämlich die allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Das sind alles Vorläufergedanken dafür.
Gerk: Wenn wir jetzt noch mal an den Anfang unseres Gesprächs denken, an diese ständig gezogenen Parallelen zu dieser Zeit, mit der Sie sich da jetzt so intensiv beschäftigt haben, dann fällt mir ein, dass ja auch gern in Sonntagsreden beschworen wird, dass man aus der Geschichte etwas lernen muss. Wie sehen Sie das mit Blick auf das Jahr 1919, was erzählt uns das über uns heute als Zeitgenossen? Können wir da draus wirklich was lernen?

Soziale Fragen spielen eine große Rolle

Förster: Es wäre natürlich schön, wenn das so einfach wäre. Um mal Rainald Grebe zu zitieren, wenn man die Geschichte bereit hätte wie eine Tafel Schokolade, aber meistens lernt man daraus, wie man es nicht machen sollte, wenn man überhaupt was daraus lernen kann.
Vielleicht für Deutschland: Die Revolution von 1918, 1919 war eine politische vor allen Dingen und keine soziale, und die war deswegen auch eine Enttäuschung für viele Anhängerinnen und Anhänger der Sozialdemokratie. Vielleicht ist da eine Parallele, denn wir wissen ja, in unserer Gegenwart in Umfragen spielen soziale Fragen für die Menschen die allergrößte Rolle. Kinder- und Altersarmut, Wohnungsnot, gleiche Bildungschancen für alle, das sind Themen, die Menschen in Deutschland bewegen. Worüber wird dauernd geredet? Über die sogenannte Flüchtlingskrise, obwohl wir kaum noch Geflüchtete haben, die in Deutschland ankommen. Da würde ich denken, würde es Sinn ergeben, diese sozialen Themen, die Menschen interessieren, die ernst zu nehmen und die anzugehen.
Gerk: Birte Förster, vielen Dank für dieses Gespräch!
Förster: Bitte, sehr gern!
Gerk: Und das Buch "1919: Ein Kontinent erfindet sich neu" ist beim Reclam-Verlag erschienen, es hat 234 Seiten und kostet 22 Euro.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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