Birbaumer / Zittlau: "Denken wird überschätzt"

Neugier auf die Leere des Gehirns

Eine Frau meditiert vor einem Sonnenuntergang.
Meditation ist für die Autoren nicht gleich Meditation. Über die Messung von Hirnwellen verteilen sie Noten. © imago/stock&people/UIG
von Volkart Wildermuth · 06.01.2017
Jugendliche würden eher eine Woche auf Sex verzichten als auf ihr Smartphone, so eine jüngste Studie. Der Neurowissenschaftler Niels Birbaumer und der Journalist Jörg Zittlau empfehlen im Buch "Denken wird überschätzt" Pausen vom Gedankenfluss.
U-Bahn oder Bus fahren ist Smartphone-Zeit. Statt vor sich hin zu träumen, Bücher und Zeitungen zu lesen, studieren die meisten Fahrgäste neuerdings lieber ihre Mobiltelefone und damit die neuestens Meldungen in den sozialen Netzwerken wie Facebook und Co. Jugendliche würden sogar eher eine Woche auf Sex verzichten als auf ihr Smartphone, so eine jüngste Studie. Das Gehirn ist daueraktiv, jede Lücke wird gefüllt. So weit, so bekannt.
Aber das Gehirn kann auch anders, sagen der Neurowissenschaftler Nils Birbaumer und der Journalist Jörg Zittlau in ihrem Buch "Denken wird überschätzt". Es gibt einen Leere-Mechanismus, in dem die Nervennetze entspannt schwingen – von sich aus. Und nicht nur das: Die Menschen sollen sogar "Leere-affin" sein, also ganz gezielt Pausen vom Gedankenfluss suchen.
Einfach ist das aber nicht. Um Leere zu ermöglichen, muss das Abwehrsystem des Gehirns heruntergefahren werden, das ständig nach Gefahren Ausschau hält. Als nächstes blockiert der Thalamus allzu aufdringliche Sinnesinformationen, nicht nur von der Außenwelt, sondern auch aus dem eigenen Körper. Das "Ich" tritt zurück und es entsteht ein Gefühl der Verbundenheit mit der Welt. Langsame Hirnwellen dominieren, nur ab und zu gibt es hochfrequente Aktivität, Inseln der Achtsamkeit, die aufscheinen und wieder verschwinden.

Wirkung der Meditation zu wenig beschrieben

Dieser Twilight- oder Dämmerzustand fühlt sich nicht nur gut an, er schafft auch Raum für kreative Gedanken. Eine rundum gute Sache also, so die Autoren, die daher eine ganze Reihe von Wegen in die Gedanken-Leere beschreiben: das entspannte Schweben in dunklen Isolationstanks, Meditation oder Musik. Aber Meditation ist für Niels Birbaumer und Jörg Zittlau nicht gleich Meditation. Über die Messung von Hirnwellen verteilen sie Noten: Anhänger der Transzendentalen Meditation erreichen nur eine Art Sitzschlaf, während Zen-Mönchen eine echte Versenkung erleben.
Doch bei aller Faszination für die Hirnforschung: für die Versuchspersonen dürften die wissenschaftlichen Befunde deutlich weniger interessant sein, als die Erfahrung der Meditation und deren Wirkung auf ihr Leben. Davon erzählt diese Buch aber leider viel zu wenig. Vor allem auch, weil die positiven Folgen des Leere Erlebens nur knapp beleuchtet werden. Stattdessen pressen Niels Birbaumer und Jörg Zittlau unterschiedliche Phänomene in das Korsett ihres Leere-Begriffs. So geht es um die Leere vor der Geburt und beim Sterben, um das Verschwinden im Orgasmus, um religiöse Erweckungserlebnisse sowie um eine ganze Reihe von psychischen Störungen.

Phänomen der Leere bleibt schwammig

Das ist gelegentlich erhellend, etwa wenn die Autoren dafür plädieren, Alzheimerpatienten eine Welt der Leere zu zugestehen, statt sie zu einem anstrengenden Kampf um Gedächtnisreste anzuspornen. Doch ob Psychopathen durch eine Angst vor der Leere angetrieben werden und ob sie darin Menschen mit Aufmerksamkeitsdefiziten ähneln bleibt fraglich. Ebenso wie die Behauptung, Depression und Schizophrenie seine vor allem Krankheiten der Leere.
Und so weckt dieses Buch zwar die Neugier auf die aktive Leere des Gehirns, doch insgesamt bleibt das Phänomen selbst seltsam schwammig - gerade auch weil ihm hier eine so breite Erklär-Kraft zugeschrieben wird.

Niels Birbaumer/Jörg Zittlau: Denken wird überschätzt. Warum unser Gehirn die Leere liebt
Ullstein Verlag, Berlin 2016
256 Seiten, 20 Euro

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